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Ausgabe 2003/06
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nmz 2003/11 | Seite 23
52. Jahrgang | November
Forum Musikpädagogik

Violinunterricht zwischen High-Tech und Tradition

Über die Entwicklung einer multimedialen Unterrichtskonzeption · Von Benjamin Ramirez

In den meisten Fernsehberichten über sportliche Ereignisse werden aus den verschiedensten Gründen kurze Zeitlupenstudien eingeblendet. Ganz gleich ob sich der Zuschauer nun besonders für diese oder jene Sportart interessiert, eine Zeitlupenstudie wird immer gerne gesehen. Für einen Augenblick ändert man dabei seine Sehgewohnheiten, Denkprozesse werden aktiviert, wir werden Zeuge einer Bewegungsanalyse. Mit derartigen Filmsequenzen wird im Spitzensport ganz selbstverständlich gearbeitet. Die Analysen von geeignetem Filmmaterial bilden unter anderem die Grundvoraussetzung für die enormen sportlichen Höchstleistungen in den letzten Jahrzehnten.

Benjamin Ramirez und Ute Hasenauer in ihrem Archiv. Foto: César León

Auch im Musikbereich sahen einige berühmte Instrumentalisten schon mit den Anfängen der Film- und Fototechnik eine große Chance für die Pädagogik. So entdeckten wir beispiels- weise in einem Fotoalbum der Familie Mendelssohn eine Fotoserie, in der sich Joseph Joachim um 1900 in Spielposition von allen Seiten fotographieren ließ. In den 20er-Jahren entstanden Lehrfilme von Carl Flesch und seinem Kammermusikpartner Hugo Becker, in denen unter anderem Zeitlupenaufnahmen verwendet wurden. Auch Filmaufnahmen aus dem Jahre 1938 von Jascha Heifetz, aufgenommen aus unterschiedlichen Kamerapositionen, vermitteln den Eindruck einer pädagogischen Absicht.

Filme als Chance der Pädagogik

Trotz dieser vielversprechenden Anfänge konnte jedoch in den folgenden Jahrzehnten das eigentliche pädagogische Potential dieser Filme für die Musiker nicht umfassend ausgeschöpft werden. Es zeigte sich, dass mit dem Betrachten von Film- und Fotomaterial alleine, noch kein wesentlicher Nutzen für die einzelnen instrumentalen Problemfelder erzielt werden kann. Studien der Harvard Universität zeigen, dass selbst auffälligste Veränderungen in Filmszenen vom Publikum nicht wahrgenommen werden, wenn dieses nicht darauf gesondert hingewiesen wird. Das Wahrnehmungsvermögen ist daher abhängig von gezieltem Wissen und Übung.

Erst mit den verbesserten Möglichkeiten der Bildtechnologien und der gleichzeitigen Bereitstellung von Informationen aus den verschiedensten Bereichen, konnten die Grundlagen für eine differenzierte Analyse gelegt werden.

Daher begannen meine Frau Ute Hasenauer und ich zunächst alle verfügbaren Adressen von Musikarchiven, Bilderdiensten, Rundfunk- und Fernsehanstalten, bekannten Filmesammlern, Stiftungen, Musikhochschulen und Universitäten anzuschreiben. Weltweit wurde persönlich in Bibliotheken nach pädagogischer Violinliteratur und Biographien großer Geiger recherchiert. Auf zahlreichen Reisen wurden persönliche Interviews mit prominenten Solisten und Pädagogen geführt. Auf diese Weise konnten annähernd 2.000 Bücher, zirka 500 Filme und Tausende von Photos zusammengetragen werden. Im Laufe der folgenden Jahre entwickelte sich aus der Analyse des zusammengetragenen Materials und der empirischen Forschung die „Morphologie der Violintechnik“. Morphologie bedeutet die Lehre von der Gestalt. Dieser Begriff wurde um 1795 von Johann Wolfgang von Goethe geprägt, als er sich mit der Entwicklung einer Pflanzenphysiologie befasste. Er sah sich einer noch weitgehend ungeordneten Pflanzenvielfalt gegenüber.

In ähnlicher Weise sind auch Haltungs- und Bewegungsformen des Geigers noch nicht systematisch erfasst worden. Da es sich beim Violinspiel um eine Bewegungskunst mit einer weit zurückreichenden Tradition handelt, mussten zwei weitere Parameter hinzugefügt werden. So wurden neben der Identifikation einer Haltungs- und Bewegungsform auch funktionale und genealogische Aspekte differenziert.

Für die instrumentalpädagogische Arbeit können Differenzierungen dieser Art bedeutende Veränderungen bringen, denn eine Haltungsform beeinflusst mit einer zwingenden Kausalität die weiteren Parameter Bewegung, Ton und Phrasierung und damit jede tiefergehende künstlerische Arbeit.

Prominente Geiger im Focus

Einen wesentlichen Bestandteil bildet die Integration prominenter Geiger. Durch ihre allgemein respektierte Vorbildfunktion bieten sie eine konstante Orientierungsmöglichkeit für zahlreiche Untersuchungsansätze. Ihr Spiel wurde zumeist über verschiedene Jahrzehnte hinweg in Ton-, Foto- und Filmaufnahmen dokumentiert, so dass neben den Beobachtungen zur geigerischen Entwicklung auch Haltungsformen in gesundheitlicher Hinsicht untersucht werden können.
Die weltweiten Recherchen bestätigen uns, dass es eine wissenschaftliche Haltungs- und Bewegungsforschung mit den oben genannten Schwerpunkten noch nie gegeben hat. In diesem Sinne ist die Morphologie als eine anwendungsorientierte Grund-lagenforschung zu betrachten.

Um die Ergebnisse dieser Forschungen veranschaulichen zu können wurde eine Vielzahl fachfremder Wissenschaftszweige herangezogen. Zahlreiche Vergleiche lassen sich in der Physik, Sport, Medizin, Kunst und anderen Bereichen finden. Zusätzlich werden die Ergebnisse multimedial aufbereitet, um nicht nur in Vorlesungen und Vorträgen verwendet zu werden, sondern, um auch im praktischen Instrumentalunterricht ohne Zeitverlust einsetzbar zu sein. Ein dringend notwendiger Bereich in diesem Zusammenhang ist die Entwicklung einer Nomenklatur für die unterschiedlichen Haltungs- und Bewegungsformen.

Auch ließe sich die Morphologie mit ihren Untersuchungsansätzen und der pädagogischen Konzeption auf alle anderen Instrumentalgruppen ausweiten. Seit Herbst 2002 haben Filmvorträge mit Ergebnissen zu Teilbereichen der „Morphologie der Violintechnik“ an Musikhochschulen, Universitäten, Meisterkursen und Festivals in Deutschland und Österreich stattgefunden. Der Erfolg und die Akzeptanz der Präsentation in der Öffentlichkeit zeigt, welche große didaktische Wirkung von dieser Arbeit ausgeht. Sicherlich auch, weil hier eine völlig neuartige Verwendung der Medien für die Lehre erstmalig systematisiert erfolgt.

Die Vorträge nehmen als übergeordnete Informationsquelle einen grundlegend wichtigen Platz ein, jedoch steht die direkte instrumentale Arbeit weiterhin im Mittelpunkt. Aufgrund zahlreicher Anfragen fand in diesem Sommer zum ersten Mal ein „Mediendidaktischer Violinkurs“ an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg statt, bei dem Studenten sich in eine direkte Konfrontation mit den großen Meistern der Violine begeben konnten.

Haltungs- oder Bewegungsbilder und Bühnenpräsenz der Kursteilnehmer wurden mit Hilfe eines improvisierten Kamerastudios in eingehendster Weise analysiert. Die Nutzung dieser Technik ermöglichte dabei eine weitgehend objektive Beurteilung. Besonders die Möglichkeit, sich während des Geigens aus verschiedenen Perspektiven sehen zu können, ließ diese schonungslose Selbstreflexion zu einem Erlebnis werden.

Wenn auch weiterhin an bekannten Parametern wie Intonation, Rhythmus, Fingersätzen und Strichen gearbeitet werden wird, so erhielten die Studenten zusätzlich eine Fülle von Informationen, die ihnen teils durch die begleitend gezeigten Filmvorträge, teils durch den individuellen Einzelunterricht helfen können, zu ihrer eigenen individuellen Spiel- und Ausdrucksform zu finden.

Mit den Erkenntnissen der Instrumentalmorphologie, ihrer mediendidaktischen Aufarbeitung und den darin enthaltenen zahlreichen kreativen Verknüpfungsmöglichkeiten können entscheidend neue Akzente in der Pädagogik gesetzt werden.

Musiker in der Cyber-Welt

Eine weitere, in die Zukunft weisende Perspektive eröffnet sich durch die virtuelle Welt und die damit verbundenen Technologien, welche sich mit ihren einzigartigen Möglichkeiten bereits in Medizin, Sport und der Filmbranche durchgesetzt haben. Gespräche darüber, diese Komponenten auch für die Instrumentalmorphologie einzusetzen, fanden bereits an entscheidenden Stellen statt.

Was zunächst wie eine Vision klingt, könnte dadurch schon morgen Wirklichkeit werden und in den unterschiedlichsten Formen praktische Anwendung finden: Das zeitlose Medium der virtuellen Welt könnte ein Ort sein, an dem man die großen Geiger der Vergangenheit zum Leben erwecken kann.

Man stelle sich vor, berühmte Meister des 20. und 21. Jahrhunderts zu einem Treffen in ein großes Zimmer einzuladen. Man würde sie bitten, verschiedene Passagen aus der Violinliteratur vorzuspielen, beliebig oft und in den unterschiedlichsten Tempi. Es wäre möglich, um sie herumzulaufen, sie von oben und unten zu betrachten, oder gar ganz dicht an sie herantreten, um beispielsweise ganz genau den Fingeraufsatz zu beobachten. Wir könnten zwei Geiger gleichzeitig nebeneinander spielen lassen und Unterschiede in ihren Bewegungen beobachten, um hier nur einige wenige Aspekte zu nennen. Wir würden Geigenunterricht von Thibaud, Elman, Heifetz, Milstein, Oistrach oder Szeryng in einer beeindruckenden Intensität erleben. Verloren geglaubte geigerische Konzeptionen hätten die Chance, wieder in neuen Varianten entstehen zu können. Das Verständnis für die größten Geiger würde um ein Vielfaches wachsen und auch den nachfolgenden jüngeren Generationen lebendig bleiben.
Was Carl Flesch in seinen „Erinnerungen eines Geigers“ vor mehr als 70 Jahren aussprach: „... so wird die Musikforschung im 21. Jahrhundert vielleicht imstande sein, sich vor allem eine Vorstellung davon zu machen, wie die Geiger hundert Jahre vorher gespielt haben“, könnte auf diese Weise Verwirklichung finden.

Eine Präsentation zu Themen der „Morphologie der Violintechnik“ und die Vorstellung des gesamten mediendidaktischen Konzeptes zur Ergänzung von Musikstudiengängen wird voraussichtlich Mitte November an der Musikhochschule in Nürnberg stattfinden.

Weitere Informationen unter benuto@t-online.de

 

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