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Ausgabe 2003/06
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nmz 2003/11 | Seite 24
52. Jahrgang | November
Hochschule

Zu der Person werden, die man ist

Das „gefühlte Alter“ bei öffentlichen Auftritten · Von Michael Bohne

Die reine Lufttemperatur stimmt häufig nicht mit dem thermischen Empfinden der Menschen überein. Verschiedene Umweltfaktoren wie Luftbewegung, Luftfeuchtigkeit und Kleidung haben einen Einfluss darauf, wie wir die „echte“ Außentemperatur empfinden. Deshalb wird in der Meteorologie von der „gefühlten Temperatur“ gesprochen. Auch beim Alterserleben kann man eine solche Diskrepanz zwischen Messbarem und Erlebtem beobachten. Das „gefühlte Alter“ kann erheblich vom biologischen Alter abweichen. In Kontaktanzeigen und in der Anti-Aging-Bewegung wird die Metapher des „gefühlten Alters“ häufig bemüht. Meist mit dem Zweck, den betreffenden Menschen im positiven Sinne jünger erscheinen zu lassen, weil dies seine subjektive Lebensqualität oder seinen „partnerschaftlichen Marktwert“ höher erscheinen lässt. Die Reduktion des gefühlten Alters hat aber nicht nur positive Auswirkungen, sondern bei öffentlichen Auftritten auch spürbare unangenehme Folgen.

Stress im Rampenlicht

 

Dr. med. Michael Bohne ist Arzt, Coach, Trainer und Psychotherapeut. Er trainiert als Auftritts-Coach Fernseh- und Radiojournalisten von ARD und ZDF (im Rahmen der ZFP, Zentrale Fortbildung der Programm-Mitarbeiter von ARD und ZDF). Ferner war er Lehrbeauftragter der Hochschule für Musik und Theater in Hannover für den Bereich Lampenfieber-Training und Auftritts-Coaching.

80 Prozent der Menschen reagieren mit Nervosität, Unsicherheit oder Angst, wenn sie im Aufmerksamkeitsfokus einer Gruppe stehen1, sich also öffentlich exponieren. Dies ist eine völlig normale Reaktion, die jedoch, wenn sie in beruflichen Hochleistungskontexten auftritt, häufig leistungsmindernd wirkt. Schüler bei „Jugend musiziert“, Bewerber für einen Studienplatz an einer Musikhochschule, Examenskandidaten und Wettbewerbsteilnehmer erleben dies häufig. Musiker bleiben oft ihr Leben lang Prüflinge, da sie jedes Probespiel bei einem Orchester, jede CD-Produktion, ja teilweise jeden Auftritt als Prüfung erleben, in der sie versagen könnten. Der auftretende oder sich exponierende Musiker fühlt sich unsicher, empfindet störende Anspannung oder sogar Angst. Häufig leiden Menschen in diesen Situationen auch unter Versagensängsten und dem Gefühl, ausgeliefert zu sein. Verantwortlich dafür ist meist eine ungünstige Ausrichtung des Aufmerksamkeitsfokus. In Hochleistungskontexten kann es dazu kommen, dass der Betroffene keinen optimalen Zugriff mehr zu seinen Kompetenzen hat und körperlich eine evolutionsbiologisch Jahrmillionen alte „fight or flight“-Reaktion abläuft. Der Körper reagiert aufgrund der als Bedrohung erlebten Situation mit einer Bereitschaft zum Kampf oder zur Flucht. Dies führt zu einer Erhöhung der Puls-, der Atem- und der Stimmfrequenz, zu einer Anspannung der Muskulatur, beziehungsweise Muskelzittern und zu einer Minderdurchblutung des Gehirns – sicherlich alles sinnvolle und nützliche Reaktionen, wenn man kämpfen oder flüchten muss, nicht jedoch, wenn man musikalische Höchstleistungen erbringen oder einfach nur musizieren will.

„So klein mit Hut“

Kaum einem „Auftretenden“ ist bewusst, das er sich vor oder während eines als unangenehm erlebten Auftritts mit seinem gefühlten Alter in die Erlebensweise der eigenen Vergangenheit „katapultiert“. Einige Betroffene fühlen sich wie drei, vier, acht oder zehn Jahre, andere fühlen sich wie in der Pubertät, wieder andere fühlen sich wie zu der Zeit, als sie ihr Studium anfingen. Viele fühlen sich erinnert an ihren ersten oder einen als unangenehm erlebten früheren Auftritt.

Eine unangenehme Konsequenz dieser Altersregression ist auch, dass man den Betreffenden sein subjektives „Kleinheits- und Unsicherheitserleben“ ansehen oder anhören kann. Sie wirken oft tatsächlich viel jünger und unsicherer, als sie sind, was man auch an ihrer Stimme hört. Dies kann dazu führen, dass der Lehrer, die Jury oder das Publikum sie nicht mehr ernst nehmen. Ein fataler Teufelskreis beginnt nun: Der „Alterszwerg“ bemerkt diese Reaktion des Gegenübers, dies verstärkt häufig die Ängste und Unsicherheiten, was das Gegenüber wiederum verwundert und so weiter. Viel Spaß beim Auftritt!

Den meisten Menschen ist das Phänomen der Altersregression nicht bewusst. Im Gruppentraining und der Einzelarbeit mit Klienten, die unter Auftrittsangst und störendem Lampenfieber litten, zeigte sich bei Hunderten von Klienten, dass die Altersregression eine häufige Grundbedingung für die Entwicklung der negativen Gefühle (etwa Unsicherheit und Angst) in Auftrittssituationen ist.

Doch was kann der Auftretende gegen das innere Schrumpfen tun? Er sollte sich vor und während des Auftritts seines tatsächlichen Alters bewusst sein. Er kann sich zum Beispiel vergegenwärtigen: „Ich bin 39 Jahre alt“ oder „Ich habe 39 Jahre Lebenserfahrung und 28 Jahre Erfahrungen an meinem Instrument“. Dann taucht er häufig sehr schnell wieder aus dem Problemzustand, der so genannten Problemtrance auf. Die negativen Gefühle lassen dann nach, der sich Exponierende wird und wirkt gelassener und kompetenter. Das Gehirn ist nun wieder in einem „altersangemessenen“ Zustand und hat somit wieder einen besseren Zugriff auf die vorhandenen Ressourcen. Es nutzt wieder die gesamte Klaviatur der persönlichen und musikalischen Kompetenzen. Bei etwa einem Drittel der Coaching-Klienten, die mit Auftrittsängsten und störendem Lampenfieber ins Coaching kamen, war dies die wesentliche und durchschlagende Intervention.

Diese heraklische „Werde, der du bist“-Intervention hat sich in der Arbeit mit Musikern und Journalisten, aber auch bei Schülern und Studierenden, die unter Auftrittsängsten und störendem Lampenfieber litten, bewährt2. Darüber hinaus lässt sie sich bei vielen Menschen mit Ängsten und Selbstwertproblemen mit oft sehr verblüffendem Erfolg anwenden. Es handesich um eine der kürzesten und wirksamsten Selbstcoaching-Intervention überhaupt. Besonders praktisch ist, dass der „Auftretende“ sie jederzeit dabei hat. Hilfreich ist, sich an den Rand der Noten oder des Redemanuskripts das Alter oder die unterstützende Affirmation gut sichtbar zu notieren, etwa „ich bin 32 Jahre alt und habe 17 Jahre Auftrittserfahrung“.

Bei Probespielen, Wettbewerben, Examensvorspielen, Klassenvorspielen, ja teilweise schon im normalen Unterricht (alles Situationen, in denen Menschen immer wieder kontextbedingt „schrumpfen“) sagt man sich am besten vor dem Betreten des Raumes und vor dem Beginn der musikalischen Darbietung immer wieder sein „echtes“ Alter, was dazu führt, dass der „neuronale Zugriff“ auf die vorhandenen Ressourcen erleichtert wird. Der Auftretende fühlt sich dann selbstsicherer, kompetenzzuversichtlicher und gelassener.

Bei den meisten Musikern wird sich mit dieser Selbstcoachingstrategie das persönliche „Stimmungswetter“ und das „Selbst- oder Kompetenzzuversichtsklima“ etwas – wahrscheinlich sogar deutlich – verbessern lassen. Ob es durch diese hilfreiche Intervention gleich zu einer „Pro-Aging-Bewegung“ kommen wird, bleibt abzuwarten.

1 Plaut (1990)
2 zu anderen Strategien siehe auch Bohne (2002)

Bibliographie
• Bohne, M.: Nutzung natürlich auftretender Trancephänomene zur Verbesserung der musikalischen Auftrittsleistung. Ein kompetenz- und lösungsorientiertes Auftritts-Coaching. Musikphysiologie und Musikermedizin, 2002, 9, Nr.3, S. 99-111.
• Plaut, E.: Psychotherapy pf Performance Anxiety. Medical Problems of Performing Artists 5. 1990, S. 58-63.

Zusätze:


Psychotherapeutische Erklärungen zur Altersregression

In der Hypnotherapie ist das „gefühlte Alter“ als Altersregressionsphänomen schon lange bekannt. Der Betreffende erlebt sich in angstmachenden Situationen jünger, als er eigentlich ist. Anders ausgedrückt kann man es auch als partielles Dissoziations- oder Abspaltungsphänomen (hinsichtlich des Alterserlebens) beschreiben. Das heißt, der Betreffende ist nicht ganz in/bei sich, da ein wesentlicher Teil des Ichs, beziehungsweise der Identität, nämlich das Alterserleben, nicht dem Hier und Jetzt entspricht, sondern in jüngere Erlebnisweisen regrediert ist.

Aus psychoanalytischer Sicht kann dieses Phänomen meist als Übertragungsphänomen gedeutet oder verstanden werden.

Wahrnehmungspsychologisch bedeutet dies, dass es durch einen Umweltreiz im Hier und Jetzt zu einer Musterwiederholung eines alten Problemmusters kommt, was zu einem tranceartigen Abtauchen in eine alte Problemphysiologie kommt. Das heißt im Klartext, dass eine aktuelle Kontextbedingung (etwa eine autoritäre Person, eine Prüfungs-, Auftritts-, Überforderungs- oder Beobachtungssituation) eine intensive unbewusste Erinnerung aktiviert, wahrscheinlich über eine Aktivierung neuronaler Erinnerungsfelder. Mit dem Resultat, dass sich der Betreffende wirklich sehr viel jünger, unterlegener, kleiner und inkompetent fühlt. Das reduzierte „gefühlte Alter“ scheint nun für die unangenehmen Emotionen verantwortlich zu sein (!), da sich der betreffende Mensch in einem dem Kontext nicht angemessenen psycho-physiologischen Zustand befindet. Das Gehirn gerät sozusagen in einen altersunangemessenen, also jüngeren Zustand. Die Konsequenz ist, dass der Betreffende einen schlechteren Zugriff auf seine Kompetenzen und Ressourcen hat, die ihm dann für die aktuelle Situation fehlen.

„Erkenne dich selbst“ oder „Werde der du bist“

In der Antike war am Tempel des Apoll in Delphi deutlich und für alle sichtbar ein Spruch zu lesen, auf dessen Grundlage, die „Werde, der du bist“-Intervention beruht: „Gnothi Seautón“ – „Erkenne dich selbst“. Selbsterkenntnis sollte nach Meinung der alten Griechen die Basis für jedes sinnvolle Denken über Gott und die Welt bilden. Selbsterkenntnis soll beim Auftritts-Coaching zum Bewusstwerden der eigenen Ressourcen und Kompetenzen führen, was unweigerlich zu einer Erhöhung der Kompetenzzuversicht und zu einer größeren Gelassenheit führen wird.

Kant und die Konstruktivisten haben gezeigt, dass das, was erkannt wird, von dem, der es erkennt, zwangsläufig abhängt und zwar insofern, als der Erkennende das Erkannte notwendig konstruiert. Das bedeutet, dass die Wirklichkeit nicht so erkannt werden kann, wie sie an sich ist, sondern nur in jener Gestalt, in der sie für uns als solche erscheint. Alles ist nur innerhalb eines Bewusstseins und für dieses da.

Das Phänomen des „Gefühlten Alters“ ist also ein gutes Beispiel für „erlebten Konstruktivismus“. Das erkennende Selbst fühlt sich selbst viel jünger, als es ist, und erlebt sich gleichzeitig aber in einem Kontext, in dem es alters- und erfahrungsgemäß agieren muss. Es erlebt eine Diskrepanz zwischen erlebtem Altersgefühl mit der dazu gehörenden reduzierten Kompetezzuversicht und situativen Anforderungen in der Gegenwart, zum Beispiel musikalische oder mentale Höchstleistungen erbringen. Die erlebte aber unbewusste Diskrepanz zwischen gefühltem und tatsächlichem Alter führt zu einer emotionalen Verwirrung oder zur Aktivierung „alter“ Ängste.

 

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