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nmz-archiv
nmz 2003/11 | Seite 44
52. Jahrgang | November
Kulturpolitik
Aus Sicht des Komponisten
Ensembles für Neue Musik sind unverzichtbar
Im kommenden Jahr streicht der Deutsche Musikrat auf Beschluss
seines geschäftsführenden Präsidiums die Mittel zur
Förderung Neuer Musik aus Geldnot erheblich zusammen. Der Komponist
Klaus Hinrich Stahmer liefert Argumente für den Erhalt der
Landschaft.
Die Ensembles für Neue Musik erfüllen durch ihre Vernetzung
mit den Interessen von Komponisten, Verlegern, Rundfunkanstalten
und Veranstaltern eine wichtige Aufgabe im Musikleben der Gegenwart.
Wenn deren Zukunft nicht gesichert wird, bricht ein zentraler Teil
im aktuellen künstlerischen Schaffen unserer Zeit weg. Als
ausführende Klangkörper sind sie zur klanglichen Realisation
von Partituren unverzichtbar. Ohne solche Interpreten ist lebendige
Erfahrung zeitgenössischer Musik unmöglich. Alle Komponisten
sind auf deren Existenz angewiesen. Mit ihrer qualitativ extrem
hoch stehenden Arbeitsleistung haben die in der Bundesrepublik ansässigen
Ensembles für Neue Musik weltweit den guten Ruf unseres Landes
als Paradiesgarten der Neuen Musik begründet. Klangkörper
wie das repräsentative Ensemble Modern, dessen Name hier stellvertretend
für alle anderen hochkarätigen Ensembles genannt wird,
bürgen nicht nur im Ausland für ein Niveau von Aufführungspraxis,
das in dieser Form von ganz wenigen erreicht oder überboten
wird. So etwas hatte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Magnetwirkung
auf Komponisten und Instrumentalisten aller Kontinente und führte
zur Ansiedelung von interessanten Vertretern in Deutschland, ohne
deren Beiträge das Musikleben unseres Landes hoffnungslos ärmer
wäre. Diese geistige Vielfalt kann nur gewahrt bleiben, wenn
es weiterhin Musiker gibt, die sich zur Auseinandersetzung mit dem
Ungewohnten und Gewöhnungsbedürftigen bereit erklären.Man
kann von rund 100 qualitativ hochstehenden Ensembles für Neue
Musik ausgehen, deren Arbeit ein echter Wirtschaftsfaktor ist. Nach
zuverlässigen Unterlagen haben innerhalb von Deutschland die
Ensembles für Neue Musik in ihrer Größenordnung
von drei Spielern bis hin zur Größe eines Kammerorchesters
in einem Spitzenjahr (1995) in rund 32.000 Aufführungen 10.000
verschiedene Kompositionen der Gegenwart zur Aufführung gebracht.
Dass diese Zahlen tendenziell eher noch höher für eine
erfolgreiche Tätigkeit der Ensembles anzusetzen sind, geht
aus der „Dunkelziffer“ der von einzelnen Veranstaltern
nicht gemeldeten Aufführungen hervor.
Die Ensembles für Neue Musik stehen für moderne Technologie,
die überall dort eingesetzt werden, wo es um neuartige Instrumente
und Spieltechniken, Elektronik und vertrackte Satzstrukturen bis
hin zum Spiel ohne Dirigenten geht. Aufgeschlossen für ungewöhnliche
Aufgaben, haben sich Gruppen zusammengefunden, denen die Erschließung
neuer Hörergruppen und ungewöhnlicher Spielstätten
ebenso am Herzen liegt, wie die Erarbeitung innovativer Partituren
in Zusammenarbeit mit deren Autoren. Parallel zu den Entwicklungen
im modernen Film, im experimentellen Tanz-theater und in der bildenden
Kunst haben sich innerhalb der Neuen Musik ganz besondere Aufführungs-
und Vermittlungsformen herauskristallisiert, bei denen Live-Elektronik
und Computer ebenso unverzichtbar geworden sind wie alle Arten multimedialer
Aufführungsformen. Auf diesem Fundus aufbauend konnten die
Komponisten ihrer Kreativität freien Lauf lassen und Schlüsselwerke
schaffen, die gültiger Ausdruck unserer Zeit sind. Wenn die-se
Entwicklung kaputt gespart wird, verkommt der Konzertsaal konkurrenzlos
und hoffnungslos zum Museum. Das Publikum kann nicht mehr hören
und erfahren, was heutzutage musikalisch passiert und wird von der
geistigen Entwicklung abgeschnitten. Moderne Bilder kann man im
Museum sehen, aber moderne Klänge kann man nur hören,
wenn es die dafür erforderlichen Interpreten gibt. Ein Wegfall
solcher Spezialisten lässt Deutschland von seiner internationalen
Spitzenposition zum Entwicklungsland werden.