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nmz-archiv
nmz 2003/11 | Seite 8
52. Jahrgang | November
Kulturpolitik
Heftiger Preisregen wider Erwarten
Die Ergebnisse des 52. ARD-Musikwettbewerbs kommen einer kleinen
Sensation nahe
Jedes Jahr im September wird München zum Schauplatz kleiner
Tragödien: Beim ARD-Musikwettbewerb trennt sich in vier, jährlich
wechselnden Kategorien die Spreu vom musikalischen Weizen. Wettbewerbe
sind für junge Musiker immer eine Herausforderung fürs
Nervensystem, München jedoch ist ein besonders hartes Pflaster:
Zeitgenössische Musik zählt zum Pflichtprogramm –
Mauricio Kagel, Peteris Vasks, Thomas Larcher und Katia Tchemberdji
lieferten diesmal Auftragswerke –, erste Preise werden in
der Regel nur in den seltensten Fällen vergeben. Doch jede
Regel hat ihre Ausnahmen, wie die heurige Endausscheidung unter
Beweis stellte.
Die Preisträger (v.li.):
Günter Papendell, Andrea Lauren Brown, Tyler Duncan,
Julia Sukmanova, Measha Brüggers-Gosman (vorne), Gérard
Kim, Marina Prudenskaja. Foto: Catherina Hess/ARD Wettbewerb
Bereits die Statistik spricht eine eindeutige Sprache: 467 Bewerbungen
aus 51 Ländern – eine Zahl, die an sich schon staunen
macht, und der Beginn eines komplexen Auswahlverfahrens. Nach vier
Tonband-Vorrunden wurden lediglich 208 Kandidaten in die Metropole
an der Isar eingeladen. 48 Jurorinnen und Juroren hatten dann über
Wohl und Weh der bunt gemischten Eleven-Schar zu urteilen. Und natürlich
platzten auch heuer wieder Karriereträume wie die sprichwörtliche
Seifenblase: kein Glamour, keine Plattenverträge, kein Jet-Set
durchs musikalische Fegefeuer der Eitelkeiten. Auch beim 52. ARD-Musikwettbewerb
war Dabeisein eben nicht alles. Gerade 17 junge Musiker erreichten
das Finale. Doch, und das ist das wirklich Erstaunliche an der diesjährigen
Endausscheidung: Der Daumen der Juroren ging heuer so oft nach oben
wie selten zuvor. Insgesamt wurden 14 Preise vergeben – davon
in den Kategorien Trompete und Kontrabass jeweils ein erster Preis,
im Fach Gesang sogar zwei erste. Nur die Klarinettisten mussten
sich zur Gänze mit Zweit- und Drittplatzierungen zufrieden
geben. Erstaunlich, denn im Regelfall geizt der ARD-Musikwettbewerb
mit Auszeichnungen wie Alberich mit Gold. Sind Jugendliche heute
musikalischer denn je? Sind die Sorgen um den Klassik-Nachwuchs
endlich Schnee von gestern? Die vielen guten Platzierungen legen
das jedenfalls nahe. Zumal in der, traditionell mit Argus-Augen
verfolgten Kategorie Gesang übertraf die Gewinnausschüttung
alle Erwatungen – sämtliche sieben Finalisten wurden
ausgezeichnet.
„Wer das technische Rüstzeug nicht mitbringt, braucht
gar nicht anzutreten“, erklärte Siegmund Nimsgern, als
ich ihn danach fragte, ob Technik oder Musikalität für
die Juroren im Fach Gesang ausschlaggebender sei. Auch Thomas Quasthoff
meinte zur Süddeutschen Zeitung: „Nur schön singen
reicht mir nicht.“ Es tut gut, das aus so berufenem Munde
zu hören: Beide Sänger konnten die renommierte Auszeichnung
selbst erkämpfen – Nimsgern 1966, Quasthoff 1988 –,
beide saßen diesmal unter den Juroren. Konnten sie sich in
den Jurysitzungen gegen ihre Kollegen Klaus Schultz, Dame Gwyneth
Jones, Francisco Araiza, Helmut Deutsch, Daphne Evangelatos, Roberto
Saccà und Edith Wiens nicht durchsetzen? Mit Marina Prudenskaja
wurde einer dramatischen Mezzostimme mit Koloratur der erste Preis
verliehen, die Arien von Rossini und Verdi technisch sauber, doch
neutral im Ausdruck und mit vokalen Kraftakten realisierte, die
einen um ihre Stimmbänder fürchten ließen. Erst
der Blick ins Programm verriet, dass sie aus Russland stammt. Wesentlich
stärker war die typisch russische, gutturale Tongebung bei
Julia Sukmanova zu hören. Ihre nicht ganz idiomatische Textgestaltung
in Arien von Weber und Verdi dürfte für die Jury stärker
ins Gewicht gefallen sein als der individuelle Stimm-Klang –
sie musste sich mit einem dritten Platz begnügen.
Voluminöse Töne und freundliche, etwas glatte Professionalität
wurden auch bei ihren männlichen Kollegen belohnt. Zeichen
dafür, dass der musikalische Nachwuchs den Gesetzen zunehmender
Globalisierung unterworfen ist?
Nimmt man die Länderstatistik genauer ins Auge, lassen sich
die Belege hierfür schnell zitieren: Aus den klassischen Gesangschulen
Europas kamen die wenigsten Vertreter. Unter den 89 Sängern,
die nach München eingeladen wurden, stammten zwei aus Italien,
aus Frankreich und Spanien nicht ein einziger. Immerhin 20 Prozent
kamen aus Deutschland, mit satten 35 Prozent war Korea am stärksten
vertreten. Tatsächlich erreichten mit Gérard Kim und
Günter Papendell Vertreter der beiden Länder das Finale.
Nun könnte man diesen Umstand schnell mit dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit
erklären. Aber das wäre zynisch und unfair gegenüber
den engagierten jungen Künstlern. Zumal der erste Preis an
Gérard Kim ging, einem Verdi-Bariton, der auf der Bühne
Charme und Charisma verströmte – auch wenn ihm voll ausgesungene
Noten und Show-Effekte noch wichtiger waren als vokale und stilistische
Differenzierung.
Doch halt, Schluss mit der Beckmesserei! Als der Kanadier Tyler
Duncan Guglielmos „Rivolgete a lui lo sguardo“ mit sensibler
Tongebung und der für Mozart unabdingbaren Mischung aus Einfachheit
und Euphorie sang, verstummte selbst das Grollen leidenschaftlicher
Melomanen, weil klar wurde: Musik öffnet und reflektiert menschliche
Dimensionen. Sie ist nicht primär eine Möglichkeit zu
zeigen wie makellos man schon in jungen Jahren die schwierigsten
Stücke bewältigt. Nicht alle Juroren ließen sich
davon erweichen, Duncan wurde „nur“ Dritter. Schade,
dass er nicht hörte, was Siegmund Nimsgern mir verriet: „Letztlich
kommt es auf die Persönlichkeit an, ein erster Preis zählt
wenig.“