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nmz 2003/11 | Seite 11
52. Jahrgang | November
Kulturpolitik
Politik und Gesellschaft ergreifen Initiativen
Überlegungen von Bruno Tetzner anlässlich des Kongresses
„40 Jahre Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung“
Die Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung wurde 40. Aus diesem
Anlass veranstaltete sie am 3. und 4. Oktober 2003 in Remscheid
einen Jubiläumskongress. In vielen Referaten und Foren wurde
das Leitthema „Kultur öffnet Welten… nachhaltig“
behandelt. Wir bringen heute einen Auszug des Referates von Bruno
Tetzner (Mitgründer und langjähriger Vorsitzender) zum
Thema „Zukunft Kulturelle Bildung! Blick zurück nach
vorn“.
Was heute bei allen Nach-PISA- und OECD-Debatten vergessen wird,
es gab schon vorher eine Bildungsdebatte in der Jugendarbeit. Nur
diese wurde nicht so laut geführt. In NRW wurde bereits mit
der Novellierung des Landesjugendplans über eine schärfere
Definition des Bildungsbegriffs im Kontext der Jugendhilfe debattiert.
Ergebnis dieses langen Klärungsprozesses war, dass in den Richtlinien
zum novellierten LJPL „Bildung“ im Kontext der Jugendhilfe
dargestellt ist. Deutlich hervorgehoben wurde, dass die Bildungsprozesse
in der Jugendarbeit an den Interessen und Lebenswelten junger Menschen
anknüpfen und informelle Bildung, nichtformelles und experimentelles
Lernen ermöglichen.
Schon vor elf Jahren hatte der damalige Ministerpräsident von
NRW, Johannes Rau, die Experten-Kommission „Zukunft der Bildung
– Schule der Zukunft“ ins Leben gerufen. Sie gab Analysen,
Leitvorstellungen und Empfehlungen heraus, die heute immer noch
aktuell sind; hier nur einige Schlagwörter: „Aufwachsen
in einer offenen Gesellschaft“, „Schule als Lern- und
Lebensraum“, „Schule als Haus der Lernens“, „Lernen
in der Informationsgesellschaft“ et cetera.
Nun hätte man ja eigentlich erwarten müssen, dass solche
Signale hätten aufhorchen lassen oder man sich zumindest die
Frage ernsthaft gestellt hätte: „Welche Auswirkungen
hat eine zukünftige Veränderung von Schule auf unsere
Arbeit?“. Aber sowohl die Schulen als aber auch die Jugendarbeit
– eingeschlossen die Träger der kulturellen Bildung –
waren mit sich selber voll beschäftigt: Es waren zwei in sich
geschlossene Systeme. Von solchen Bildungsbegrifflichkeiten fühlte
sich niemand direkt angesprochen; das war für sie jeweils eine
andere Baustelle.
Und jetzt das! – Die Politik, die Gesellschaft ergreifen
die Initiative; sie wollen Bewegung und Dynamik; sie wollen, dass
der oder die Knoten gelöst werden. Welche Umkehrung unserer
bisherigen Erfahrungen! Bisher mussten wir in unzähligen Gesprächen
und Papieren Politiker, Ministerien und Kommunen von der Leistungs-
und Integrationsfähigkeit kultureller Bildung und Jugendarbeit
überzeugen. Heute haben PISA und Forschungsergebnisse Impulse
und Sachzwänge ausgelöst, die uns in ungewohnter Weise
herausfordern.
Jahrelang haben wir vor verschlossenen Schulen (im doppelten Sinn)
gestanden und uns mit dem Negativbegriff „außerschulisch“
herumgeschlagen. Zwar hatten wir durch unsere eigenen Bildungsdiskussionen
(das ist das besondere Verdienst von Max Fuchs) schrittweise den
Boden bereitet, auf dem ein Zusammenwirken von Schule und Jugendhilfe
sich erfolgreich vollziehen könnte. Aber das Echo blieb gering.
Nun aber öffnen sich die Schultore, und man erwartet uns. Schule
öffnet sich und wird zur Ganztagsschule. Zwei Systeme sollen
sich aufeinander zu bewegen; wird das gelingen? Endlich haben wir
die Chance, unsere Praxis mit ihren Erfahrungen in einem neuen Kontext
einzubringen.
Sind wir aber auf die Herausforderungen vorbereitet, die sich
uns jetzt bieten? Ich erlebe häufig:
ängstliches Abwarten (Die Schulen sollen erst mal wissen,
was sie wollen, und die Finanzierungen klären.)
Verzögerungsstrategien (Es fehlen ja überhaupt die
dazu ausgebildeten Leute; man müsste erst mal Modellversuche
machen und diese wissenschaftlich auswerten.)
Verkennung der Dimensionen (nur diplomierte pädagogische
Fachkräfte einsetzen).
Ganz anders handelt der Sport. Er nutzt die Vielfalt und Breite
seiner Strukturen, mobilisiert seine Sportvereine mit ihren vielen
Übungsleitern und ist vor Ort präsent.
Wir aber haben ja auch über Jahrzehnte Multiplikatoren qualifiziert
für Sing- und Musiziergruppen, Spiel-, Theater- und Tanzgruppen,
für Rhythmik, bildnerische Werkstätten, für Video
und Computer-Interessierte. Jetzt müssen wir sie alle mobilisieren;
dazu auch die vielen Stellen suchenden Absolventen von Hochschulen
und Fachhochschulen; und die große Zahl weiterer dazu geeigneter
Personen aus allen Bereichen kultureller Bildung.
Der Bedarf ist riesig. Wir haben in Deutschland rund 42.000 öffentliche
Schulen und die Entwicklungsdynamik im Praxisfeld „Ganztagsschule“
hat gerade erst begonnen.
Um Mut zu machen, offen zu sein für eine Vielfalt, will ich
einige Beispiele nennen:
Das Modell, das Schule machen kann, entstand im sauerländischen
Plettenberg: Acht Chöre (350 Mitglieder) haben sich zusammengetan,
um einen Musiklehrer zu finanzieren, der in elf Schulen zusätzlich
Kinder zum Singen animiert. Könnten nicht Ähnliches
Amateur-Theater- oder Tanzgruppen vor Ort schaffen?
Mentoren als Anstifter zum Musizieren! In Baden-Württemberg
werden „musikinteressierte und musikpädagogisch geeignete
Schüler“ zu Musik-Mentoren ausgebildet als „Brückenschlag
zur musikalischen Zusammenarbeit von Schulen und Vereinen“
(ein Kooperationsprojekt des Kultur- und Jugendministeriums, der
Oberschulämter und der Laienmusikverbände). Wäre
das nicht ein unterstützungswürdiges Modell für
andere Bundesländer? Und: – Wäre das nicht auch
für Theater und Tanz denkbar?
Während wir hier tagen, läuft in Wuppertal der 6.
Landes-Orchesterwettbewerb NRW. Dort präsentieren sich 78
Ensembles mit über 2.500 Musiker/-innen, und das Spektrum
reicht vom Gabrieli-Ensemble, Blasorchester, Kinderorchester über
Volksmusikensembles, Big Bands bis zu Steeldrums oder Electric
Sound. – Ich bin überzeugt, dass solche Ensemble-Leiter
und auch Gruppenleiter sehr wohl in der Lage sein werden, in Schulen
Jugendliche musikalisch zu animieren.
Auch wenn in den Bundesländern die ganztägigen Bildungsangebote
in den Schulen noch unterschiedlich akzentuiert sind: Wir sollten
dies als Chance nutzen. Denn wir können mit einer großen
Vielfalt von Angeboten an die Interessen von Kindern und Jugendlichen
anknüpfen und ihre Lebenswelten einbeziehen. Dies wird zu einer
neuen Lernkultur führen.
Ich muss aber auch noch auf eine zweite, nicht weniger dynamische
Entwicklung aufmerksam machen.
Frühkindliche Lebensphase
Kulturelle Jugendbildung hatte traditionell Jugend ab 16 im Blick.
Mit der erfolgreichen Arbeit der Musikschulen aber weitete sich
unser Blick zunächst bis zum Schulanfang (sechs Jahre) und
dann auch bald zum Vorschulbereich. Erst viel später öffneten
sich die Gesetze und Förderrichtlinien auch für das Kindesalter:
im KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz).
Seit einigen Jahren aber fordert die Entwicklungsforschung unsere
Gesellschaft und natürlich auch uns heraus mit Thesen wie „Bildung
beginnt mit der Geburt“(BELTZ; 200 Seiten) oder „Kinder
sind von Anfang an notwendig kreativ“ oder „Ästhetische
Bildung ist Ausgangspunkt aller Selbst- und Welterfahrung“.
Gerd. E. Schäfer, der uns genau vor einem Jahr hierzu den Blick
öffnete, sagte damals unter anderem: „Wegen der grundlegenden
Bedeutung stelle ich das ästhetische Denken dem urteilenden
Denken gegenüber und meine, dass der wichtigste Bildungsprozess
in der frühen Kindheit in der Ausformung und Differenzierung
dieses ästhetischen Denk- und Tätigkeitsbereiches liegt.“
Wir erleben ja inzwischen, dass selbst die Boulevardpresse neben
unzähligen Fachzeitschriften dieses Thema aufgreift.
Wenn das so ist, dann müssen wir die ästhetischen Bildungsprozesse
wieder in die Entwicklungs- und Lebenswelt unserer Kinder zurückholen,
damit auch Eltern erfahren und erleben können, wie sie ihr
Kind von Anfang an in seiner Entwicklung fördern und prägen
können.
Wir müssen dazu beitragen, dass zum Beispiel die Träger
von Eltern-Kind-Kursen Angebote ästhetischer Frühförderungen
in ihre pädagogischen Konzepte einbeziehen beziehungsweise
verstärken und in den Kindergärten und Kindertagesstätten
Spielen, Singen, Musizieren, Malen und Bewegen selbstverständlich
zum regulären Tagesablauf gehören.
Auch hierzu wieder einige praktische Beispiele:
„Felix“ heißt die Auszeichnung, mit der der
Deutsche Sängerbund durch Verleihung einer Plakette (an der
Eingangstür) bundesweit all jene Kindergärten unterstützt,
die Singen kindgerecht fördern. (Der „Felix“
ist inzwischen zu einem Renner geworden.) Die Sängerjugend
veranstaltet regelmäßig dazu auch Fortbildungsseminare
für Kindergärtnerinnen.
„Liedergärten“ sind wöchentliche Treffen,
bei denen Kindern im Alter von eineinhalb bis vier Jahren gemeinsam
mit ihren Eltern auf spielerische Weise das Singen nahe gebracht
wird – unter der Obhut der Chöre des Sängerbundes
NRW.
„Robbie“: „In Windeln Musik entdecken“
(schreibt die Welt am Sonntag). In Angeboten der Yamaha-Musikschulen
haben Kinder im Alter von 4 bis 16 Monaten die Gelegenheit, ihre
Sinneserfahrungen durch Beschäftigung mit Musik, Rhythmik
und Spiel zu erweitern und ihre Umwelt zu erforschen.
EMU – Elementare Musikerziehung im Kindergarten –
lautet der etwas spröde Titel für die breiten Angebote
vieler Musikschulen. Hinzu kommen erfreulicherweise in wachsendem
Maße nun auch Projekte im frühkindlichen Bereich.
Diese Beispiele sind eher zufällig und aus meinem Gesichtskreis
als Musiker. Natürlich gibt es auch Projekte mit anderen Kunstsparten.
– Ich wünsche mir sehr, dass diese Unvollständigkeit
eine Herausforderung ist, endlich einmal einen umfassenderen Überblick
über die Vielzahl bundesweit schon bestehender Konzepte, Modelle
und Projekte zu schaffen. Ich sehe diese beiden Entwicklungen als
größte Herausforderung an uns seit 50 Jahren!
Damals hatten wir die Vision einer musikalischen Breitenbildung,
und wir nannten diese Vision „Jugendmusikschule“. Damals
gab es keine geeigneten Lehrer, keine entsprechenden Ausbildungen,
keine Räume, kein Geld und eine schwer zu überzeugende
Politiker. Aber wir begannen und behielten das Ziel beharrlich im
Auge. 100 Musikschulen in zehn Jahren war unser Traum; seit über
zehn Jahren sind es tausend!
Die Herausforderung heutzutage sind: 40.000 Schulen und gewiss
über 100.000 Kindergärten und noch mehr Eltern-Kind-Gruppen.
Wenn der Bund insgesamt vier Milliarden Euro für den Auf- und
Ausbau von Ganztagsschulen und – wie Jugendministerin Schmidt
am 7. September 2003 bei Christiansen (wenn ich es richtig verstanden
habe) bis 2005 1,5 Milliarden bereitstellen will, damit die Kinder
unter drei Jahren mehr und bessere Förderung erfahren, dann
ist deutlich zu erkennen, wohin der Zug fährt.
Das politische Klima ist günstig, und die großen Chancen
für eine breitere ästhetische Basis in unserer Gesellschaft
für Kultur und Bildung übersteigen wahrscheinlich ähnlich
unsere heutige Vorstellungskraft wie damals in den ersten Jugendmusikschulen.
Aber versuchen wir einmal, mögliche Auswirkungen uns vorzustellen:
Wenn es uns gelingt, entscheidend dazu beizutragen, unsere
Kinder nachhaltig so zu fördern, indem sie bereits in ihren
ersten Lebensmonaten positive Erfahrungen und Entwicklungen durch
ästhetische Frühförderungen machen können
(und ihre Eltern in diesem Wirkungsprozess mit einbezogen sind),
wenn es uns weiter gelingt, entscheidend dazu beizutragen,
dass – darauf aufbauend – Singen, Spielen, Musizieren,
Malen und Bewegen in Kindergärten und Kindertagesstätten
wieder zum Tagesablauf gehört,
wenn es uns dazu gelingt, Schulkinder mit solchen breiten kulturellen
Vorerfahrungen im Rahmen der Ganztagsbetreuung ihren Neigungen
entsprechend weiter zu fördern, dann wird dieses ungeahnte
vitalisierende Auswirkungen auf unser kulturelles Leben und seiner
Infrastruktur haben. So wird der „Schulnachmittag“
zu einer Domäne kultureller Jugendbildung. Wir sollten nicht
um seinen Verlust jammern, sondern ihn als das große (Mit-)Gestaltungsfeld
der Zukunft sehen und nutzen! Aber gehen wir nun los. Denn die
Gesellschaft würde uns ein Zaudern oder Versagen nicht verzeihen.
Setzen wir diese Prioritäten! Wir alle sind gefordert zu
handeln.