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nmz-archiv
nmz 2003/11 | Seite 5
52. Jahrgang | November
Musikwirtschaft
Entdeckung und Vermittlung von Neuem
Das Schweizer Unternehmen Migros und sein Kulturprozent
Migros ist das umsatzstärkste Schweizer Handelsunternehmen
mit rund 85.000 Mitarbeitern. Und es ist noch mehr: Durch das Vermächtnis
des Gründers Gottlieb Duttweiler gibt es das Kulturprozent.
Seit 1957 in den Statuten der Migros verankert, gleicht das Kulturprozent
einem Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt der Schweiz. Mit Gisèle
Girgis (Mitglied der Generaldirektion Migros-Genossenschaftsbund,
Departement Human Resources, Kulturelles und Soziales, Freizeit)
und Claudio Danuser (Projektleiter Musiques Suisses) sprach Kathrin
Hauser-Schmolck.
nmz: Migros ist meines Wissens die einzige Firma, die sich
ein Kulturprozent leistet. Ist es tatsächlich ein Prozent,
das Sie für kulturelle und soziale Zwecke ausgeben?
Sammlung Migros Museum für
Gegenwartskunst, Zürich: C. Büchel: MINUS, 2002,
Installationsansicht im Kunsthaus Zürich
Gisèle Girgis: Es sind 120 Millionen Schweizer Franken,
die wir, ungeachtet der konjunkturellen Lage, für das Kulturprozent
einsetzen. Konkret setzt sich das zusammen aus einem halben Prozent
der Umsätze aus dem Detailhandel – also den Kassenumsätzen
unserer regionalen Migros-Genossenschaften – und einem ganzen
Prozent des Umsatzes des Migros-Genossenschaftsbundes. Die Organisation,
die dahinter steht, umfasst heute zahlreiche Aktivitäten, betreut
vom Departement „Human Resources, Kulturelles und Soziales,
Freizeit“. Das geht von den internationalen Sprachschulen,
den Eurocentres, über ein unabhängiges Institut für
Wirtschaft und Gesellschaft, das Gottlieb Duttweiler Institut, die
Klubschulen (die größte Erwachsenenbildungsinstitution
der Schweiz), große Erholungsparks und Freizeitanlagen bis
zum Migros Museum für Gegenwartskunst. Und natürlich bis
zu den eigentlichen kulturellen Aktivitäten. Wir fördern
alle Sparten wie Kleinkunst, Theater, Musik, Literatur, Tanz und
auch genreübergreifende Projekte.
nmz: Wie hoch ist das Budget für die Musik?
Girgis: Die Direktion Kulturelles und Soziales hat ein
Budget von etwa15 und die Musik gut 3 Millionen Schweizer Franken.
nmz: Welche Idee steckt hinter diesem Engagement?
Girgis: Die Verpflichtung war ursprünglich so formuliert:
„Das Allgemeininteresse muss höher gestellt werden als
die Migros-Genossenschaftsinteressen. Wir müssen wachsender
eigener materieller Macht stets größere soziale und kulturelle
Leistungen zur Seite stellen.“ Daran hat sich im Kern nichts
geändert.
nmz: Ist das ein Mäzenatentum, das mit Sponsoring
nichts zu tun hat?
Girgis: Sponsoring hat eine andere Zielrichtung. Die Migros
hat auch eine Sponsoring-Abteilung und ist etwa beim Sport und bei
Open-Air-Festivals präsent und unterstützt damit das kommerzielle
Kerngeschäft. Das Kulturprozent dagegen will den breiten Zugang
zu Bildung und Kultur möglich machen und die Kulturschaffenden
unterstützen.
Claudio Danuser: Duttweiler, der Gründer, war sehr
visionär und meinte, mit einem materiellen Wachstum müsse
auch ein geistiges einhergehen. Mit der Fixierung auf ein Prozent
ist die Vergrößerung des Unternehmens an eine Vergrößerung
der kulturellen Leistungen gekoppelt. Es ist sogar so, dass bei
Geschäftsrückgang das Prozent bleiben muss und man es
nicht einfach streichen kann.
nmz: Das Kulturprozent fördert Musik, Tanz, Theater,
Kunst. Nach welchen Kriterien?
Girgis: Wichtig für uns ist zum einen, mit Stipendien
oder Wettbewerben gerade junge Künstler zu fördern, zum
anderen liegt eindeutig ein Schwerpunkt auf der zeitgenössischen
Kultur. Bei allen Projekten, die wir entweder unterstützen
oder selbst veranstalten, spielt diese gewisse „Labor“-Funktion
eine Rolle: die Entdeckung und Vermittlung von Neuem. Aber auch
die etablierte Kunst ist natürlich wichtig. Die Mischung macht
es.
nmz: Wie setzt sich denn die Musikförderung zusammen?
Girgis: Vor allem durch Finanzierungsbeiträge, Wettbewerbe,
Stipendien und Studienpreise sowie den Klubhaus-Konzerten. Um die
Größenordnung der Klubhaus-Konzerte zu umreißen:
Wir hatten in der vergangenen Saison 44.000 Gäste, die 43 Klubhaus-Konzerte
mit zehn verschiedenen Orchestern in zwölf Schweizer Städten
besuchten.
nmz: Was heißt Förderung durch Wettbewerbe?
Vergeben Sie Stipendien an Schweizer Musiker, die zu Wettbewerben
reisen, oder führen Sie selbst Wettbewerbe durch?
Danuser: Beides. Wir haben sowohl die Studienpreise als auch monatliche
Stipendien.
nmz: Die gibt es nun schon seit Jahrzehnten.
Danuser: Ja, und sie sind sehr beliebt. Es gibt in der Schweiz
viele professionelle Musiker, die dieses Stipendium bekommen haben.
Das ist das eine. Und bereits zehnmal haben die eigentlichen Kammermusikwettbewer-be
stattgefunden. Der Preis besteht aus einer Preissumme und –
was viel wichtiger ist – der Weitervermittlung der Ensembles
über zwei Jahre an Konzertveranstalter in der Schweiz. Es ist
sozusagen eine Einstiegshilfe für die Ensembles. Die Migros
übernimmt einen Teil der Gage. Damit werden diese Ensembles
besonders für kleinere Konzertveranstalter sehr attraktiv,
und sie bekommen neben der Erfahrung im Auftreten auch einen Namen.
nmz: Mit „Musiques Suisses“ haben Sie auch
ein eigenes CD-Label?
Danuser: Musiques Suisses ist das einzige Label, das sich
seit zwölf Jahren konsequent um das Schweizerische Musikschaffen
kümmert. Seit 1996 gibt Musiques Suisses zudem in Zusammenarbeit
mit Pro Helvetia, Schweizer Radio- und Fernsehgesellschaft, Suisa,
Suisa-Stiftung, Schweizer Tonkünstlerverein und Schweizer Interpretengesellschaft
unter dem Namen „Musiques Suisses-Grammont Portrait“
CD-Portraits von zeitgenössischen Schweizer Komponisten und
Interpreten heraus.
Girgis: Und es gibt noch das Start Up-Label „Coffee“,
mit dem wir Newcomer der Pop-Szene unterstützen.
nmz: Die Klubhaus-Konzerte mit den international renommierten
Orchestern und Ensembles gibt es seit über 50 Jahren. Wie hat
sich das Konzept gewandelt?
Danuser: Zum 25-jährigen Jubiläum wollte Migros
sich eine Besonderheit leisten und hat die Münchner Philharmoniker
und die Bamberger Symphoniker nach Zürich und Genf eingeladen.
Das hat derart Anklang gefunden, dass die Idee, erstklassige ausländische
Orchester für eine Tournee durch die Schweiz einzuladen, weiter
institutionalisiert wurde. In den 80er- Jahren kam dann die Idee
auf, die Klubhaus-Konzerte noch weiter auszubauen. Man veranstaltete
nicht mehr nur in den fünf großen Städten die Klubhaus-Konzerte,
sondern man ging auch in kleinere Städte zu kleineren Konzertveranstaltern,
die sich nie ein großes Orchester hätten leisten können.
Irgendwann waren die Gagen der ganz großen Namen aber auch
für die Migros nicht mehr bezahlbar und man ging dazu über,
mehr und mehr mit Rundfunk-Sinfonieorchestern zusammenzuarbeiten,
die auch für innovative Programme sehr offen waren. Interessante
Programmpolitik soll auch heute die Attraktivität der Reihe
erhalten.
Girgis: Die thematische Reihe Klubhaus-Akzente etwa spricht
ein heutiges Publikum an, vielleicht nicht das traditionelle, weil
es benachbarte Kunstformen wie Literatur einbezieht. Es ist eine
ganz neue und originelle Angelegenheit, die zusätzlich zu den
Klubhaus-Konzerten veranstaltet wird.
nmz: Die kommerziellen Veranstalter ringen auch um das
Publikum. Ist da nicht eine Konkurrenz zu den Konzertreihen der
Migros?
Danuser: Seit den 50er-Jahren war das eine ständige Fehde.
Das ist in der Tat eine Konkurrenz.
Girgis: Ich denke, die Experimentierfreudigkeit, die das
Kulturprozent der Migros immer wieder gezeigt hat, darf sich ruhig
auch in der Musik zeigen. Und wenn es als Konkurrenz angesehen wird,
dann eben deshalb, weil wir mit der Sache großen Erfolg haben.