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nmz-archiv
nmz 2003/11 | Seite 44
52. Jahrgang | November
Nachschlag
Denkfehler
Die Veränderung der Rundfunklandschaft hin zu lockeren magazinartigen
Darbietungsformen geht mit der Argumentation gewandelter Hörgewohnheiten
einher. Radio gehört würde heute vornehmlich im Auto auf
dem Weg zur Arbeit, die durchschnittliche Einschaltzeit betrage
demnach hochgerechnet zirka 15 bis 30 Minuten. Also habe in solcher
Spanne eine Sinfonie, ein Kammermusikwerk oder auch eine Kantate
keinen Platz. Die Lösung ist, will man nicht einen totalen
klassischen Kahlschlag betreiben (was der nächste Schritt sein
dürfte, der teilweise schon eingeleitet wird), einen einzigen
Satz aus dem Werk zu spielen. Dazwischen liegt Plauderei auf meist
verbindlich sich anbiederndem niedrigen Niveau. Die barocken Allerweltsnudeln
zwischen Locatelli, Albinoni und Telemann bilden den beliebig knetbaren
Kitt. Auf die Gegenfrage, warum man nicht doch eine ganze Sinfonie
spiele, die ja eine künstlerische Einheit darstelle, wird geantwortet,
dass der obige Autofahrer ja dann nur einen Satz daraus hören
könnte. Hier überholt also der Beelzebub Rundfunkmacher
den Teufel Hörverhalten von rechts. Man zerschlägt das
Ganze, weil es von den Hörbedingungen ohnehin meist zerschlagen
wird. Sollte sich bei nächsten Erhebungen herausstellen, dass
Radio in erster Linie im Bad beim Zähneputzen gehört wird
– die Innung der Zahnärzte empfiehlt hierfür fünf
Minuten –, dann stünde nach dieser Logik eine weitere
Verkürzungswelle bevor. Die in den Rundfunkarchiven angelegten
Dateien für Füller von ein bis fünf Minuten würden
auf einmal eine ungeahnte Priorität in den Köpfen der
administrativen Planer einnehmen.
Mehreres daran ist falsch. Zuerst der Glaube, es dem Hörer
recht zu machen. Zugrunde liegt eine Fast-Food-Mentalität,
ein falsch verstandenes Kettenbewusstsein, das sich nach dem schwächsten
Glied richtet. Wer wenig Zeit zum Hören hat, soll durch gestückelt
abgekürzte Zeiten des Angebots bedient werden. Was aber, so
muss man sich fragen, ist schlimmer: Wenn der Hörer das Gerät
während einer Schubert-Sinfonie aus privaten Zeitgründen
abschalten muss, oder wenn das Stück vom Sender selbst abgeschaltet
wird? Im ersteren Fall mag der Hörer der privaten Notwendigkeit
die Schuld geben, er weiß vom Ganzen, dessen Erleben ihm jetzt
nicht möglich ist. Im zweiten Fall aber wird der Hörer
von vornherein entmündigt – bestenfalls mit dem Gefühl,
dass sein Teilhören mit der Bruchstücklandschaft im Rundfunk
leichter korrespondiert – aber ist das ein gutes, ein anzustrebendes
Gefühl? Wohl kaum. Weit schwerer wiegt seine administrative
Bevormundung, durch die sich gerade bei den Hörern, die sich
der ernster zu nehmenden Musik erst nähern (und auf die kommt
es ja angeblich besonders an), ein verzerrtes, fleckerlteppichartiges
Bild des Musik-Vernehmens ausbildet. Hand in Hand gehen im gut Gemeinten
aber schlecht Gedachten weitere Niveauabsenkungen. Zwischen der
Patchwork-Fläche vorgeblichen Easy-Listenings bekommt er locker
eingestreute Hinweise auf Veranstaltungen oder auch mal eine Kritik
von der Opernpremiere des Vorabends mit.
Sucht man aber bewusst solche Serviceangebote oder Rezensionen
(Stichwort: Auffindbarkeit), dann ist man allein gelassen. Denn
ob die Lulu-Kritik zwischen einem Stamitz-Allegro und einer Händel-Hornpipe
steht oder erst eine Stunde später zwischen Dittersdorf und
Reicha (oder gar nicht), das weiß man nicht. Das was man finden
will, findet man nicht, das was man ganz hören will (auch solche
Hörer gibt es noch!), hört man nicht. Fazit: Das, was
man einschalten will, schaltet man erst gar nicht ein.