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nmz-archiv
nmz 2003/11 | Seite 38
52. Jahrgang | November
Jazz, Rock, Pop
An den Grenzen der Selbstverwirklichung
Pop-Stern Christina Aguilera im Oktober in der Festhalle Frankfurt
Der große Stuhl, auf den die zierliche Frau gebunden ist,
wackelt. Schonungslos bestrahlt eine Scheinwerfer-Phalanx jedes
Zucken des jungen Körpers. Aber das Mädchen kämpft
mit den Fesseln, hat den Schlüssel für die Handschellen
unter der Zunge versteckt. Schließlich kommt sie frei. Erst
mal weg mit den Klamotten, weg mit dem T-Shirt. Es folgt ein Augenaufschlag
des Sieges und die raunende Stimme: „So here it is…
Just me – stripped“. Die Befreiung von der Fremd-bestimmung
des Showbusiness ist passiert. Zumindest in diesem kurzen Filmchen,
das die Show von Christina Aguilera einleitet.
Dann fällt die Leinwand, und der Blick auf die Bühne
ist freigegeben. In diversen Gestängeaufbauten (Schiffsrelinge,
Schwimmbadsprungtürme?) tummeln und räkeln sich Tänzerinnen
und Tänzer, irgendwo sind auch Musiker versteckt. Aus dem Gewimmel
schält sich der Star: „Stripped“. So heißt
die Show, so lautet der Titel ihres aktuellen, ihres zweiten Albums.
Ein früher Hit wie „Genie In A Bottle“ wird modifiziert
eingebettet: „Xtina“, wie sie sich zur Zeit gern nennen
lässt, zeigt sich noch einmal gefesselt (an ein großes
Sado/Maso-X-Gestell), bedrängt von aufgegeilten Tänzern,
befreit sich aber erneut mit einer haareschüttelnden Hardrock-Version
des Songs.
Eigentlich sollte es doch einfach nur so laufen wie bei Madonna
früher: Aus dem Püppi schlüpft der Prachtfalter –
schlau, selbstbewusst, erfolgreich und schön. Britney Spears
hat’s auch schon probiert, aber Christina Aguilera will es
glaubwürdiger machen. Das komplette Konzert wird davon bestimmt:
„Sorry if I don’t fake it, sorry I come too real“,
hieß es ebenfalls im Intro. Aguileras aktuelle Lieder haben
Titel wie „Underappreciated“, „Can’t hold
us down“ oder „Fighter“ und der Einsatz für
das emanzipierte Selbst wird durch exzessives Tanzen verdeutlicht.
Vielleicht meint sie es wirklich ernst. Vielleicht ist das, was
wir zu sehen und zu hören bekommen, wirklich Christina Aguilera
pur und mehr als das plakative Gedöns und Gedröhns, das
gerade mal als Empfehlung für die dritte Reihe des Broadway
reicht, ist da eben nicht. Im Verlauf des Konzertes hat man häufiger
den Eindruck, die 22-Jährige hangele sich dauernd an ihren
Grenzen entlang. Die Gesangkoloraturen schaffen es so gerade in
die Höhen, die Tanzschritte klappen so eben noch. Und wenn
sie eine kleine Ansprache hält, in der sie noch einmal betont,
wie sehr sie doch auf ihre eigenen Instinkte vertraut, dann bringt
sie ein liebevoller Zuruf aus dem Publikum beinahe aus dem Konzept.
Somit eignet sie sich tatsächlich als Idol für die unzähligen
Super- und Popstars in den Casting-Shows dieser Welt.