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nmz-archiv
nmz 2003/11 | Seite 37
52. Jahrgang | November
Jazz, Rock, Pop
Ein Paradigma relativiert sich zur Positionierung
„improvisieren...“ – das achte Darmstädter
Jazzforum 2003
„Improvisation ist ihre Vorbereitung“ – diese
Worte des Wiener Gitarristen Burkhard Stangl könnten als Motto
über dem 8. Darmstädter Jazzforum gestanden haben, das
unter dem fast aphoristisch und angenehm unprätentiösen
Titel „improvisieren...“ lief.
Hinter der sorgsamen Namensgebung des Forums verbarg sich ein Kaleidoskop
unterschiedlicher Auffassungen, Anwendungen und Einsatzweisen von
Improvisation in Musik, Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft.
Christopher Dell in Aktion.
Foto: Jazzinstitut Darmstadt
Wer Antworten auf generelle Fragen nach dem grundlegenden Wesen
von Improvisation erhofft hatte oder Anleitungen zu eigener Improvisation,
sah sich wohl enttäuscht – zu unterschiedlich waren die
Auslegungen des Begriffs. Wer allerdings aufmerksam zugehört
hatte, entdeckte in eben jener Vielfalt die gesuchten Antworten.
So öffneten sich mit den Vorträgen bislang eher unvermutete
Perspektiven, wurden Beispiele jüngerer Musikproduktion vorgestellt
und ältere in neuem Licht betrachtet.
Neben Versuchen, die (jazz)musikalische Handlungsform „Improvisation“
theoretisch in verschiedene Konstituenten zu zerlegen, waren Einblicke
in die Praxis in den abendlichen Konzerten möglich. Ein ausgeglichenes
Verständnis musikalischer Produktionsweisen zog sich als zentrales
Motiv durch fast alle Beiträge und vermittelte so ein Bild
der Forschungsdebatte.
Es geht nicht länger um eine vorgebliche Dichotomie von Komposition
und Improvisation, es haben ideologische Kämpfe darum ihre
Brisanz verloren oder sind schlicht obsolet geworden durch die Entwicklungen
der Musik. Vielmehr rückte ein anderer Aspekt in den Vordergrund,
an dem sich die beiden Extreme und die vermittelnde Tätigkeit
ausführender Interpreten diskutieren lassen – es geht
um Freiheitsgrade.
Sei es nun die Abweichung und Umspielung von Themen und time in
älterem Jazz, das Füllen von Lücken mit licks, das
Eindringen in Alltagsstrukturen und ökonomische Welten wie
Produktionsprozesse und Sponsoringkonzepte – die Fähigkeit
zur Improvisation und die damit verbundenen Möglichkeiten und
Erträge sind in den unterschiedlichsten Bereichen erkannt worden.
Dem Jazz kommt dabei das zweifelhafte Verdienst einer altbekannten
Referenzgröße zu, als „Jazz-Metapher“ in
den Stein des Organisationsmanagements gemeißelt, wie Michael
Rüsenberg darstellte. Doch ist die Musik keineswegs stehengeblieben.
Musikalische Freiheit war seit jeher Anliegen und Interpretationssache
der Musiker, ihre vielfältige Auslegung zeigten Lawrence Gushee
und Ekkehard Jost in ihren Beispielen.
Dass sich Musiker auch in einem Label frei bewegen können,
das als Werbeträger für ein Finanzdienstleistungsunternehmen
fungiert, erläuterte Paul Steinhardt. Improvisation als Haltung
näherten sich der SR-Jazzredakteur Peter Kleiß und der
Posaunist Christoph Thewes – wobei der Musiker fester in der
Welt stand.
Der Vibraphonist Christopher Dell versteht Improvisation als „Produktionsästhetik“,
er drängt auf die Öffnung des Alltags für Unvorhergesehenes
und provoziert damit unvorhersehbare Reaktionen. George Lewis erläuterte,
dass auch Computer impro-visieren können. Sein Programm „Voyager“
ist ein echter Mitspieler, es reagiert auf die Musiker, treibt sie
an, ignoriert sie bisweilen und ist in seinen Aktionen und Reaktionen
nicht wirklich berechenbar – doch ist es nicht in der Lage,
eigenständig seine ästhetischen Prinzipien zu verändern.
Improvisation ist doch nicht so einfach, wie auch der Musikwissenschaftler
Martin Pfleiderer zeigte. Musikpsychologischen Versuchen, das Unvorhersehbare
klar zu fassen, stellte er Erlebnisberichte von Musikern entgegen,
die gerade das Moment des Nicht-Rationalen betonen. Wolfram Knauer,
Leiter des Jazzinstituts, drang in das Verständnis improvisierender
Jazzmusiker ein.
Die Trias „Noodlin’, Doodlin’ and Playin’
Around...“ war Ausgangspunkt, Improvisationsästhetiken
der Jazzgeschichte auf die notwendigen handwerklichen Grundlagen
abzuklopfen. Deren Wandel in den letzten Jahren markierte Peter
Niklas Wilson als
„Paradigmenwechsel“. Doch hat das durchaus provokante
Wort nicht gezündet, es schien sich hierin eher eine Tradition
zu äußern. Und damit relativiert sich letztlich auch
ein Paradigma zu einer weiteren Positionierung, einer neben anderen.
So wurde Improvisation jenes nebulös bewundernden Staunens
entkleidet, mit dem es von Seiten des Publikums und der Kritik oft
behangen ist, letzten Endes aber konnte das Faszinosum Improvisation
doch nicht umfassend aufgeklärt werden, wie das Konzert des
Italian Instabile Orchestra bewies: Es blieb noch ein Rest Unerklärliches
– zum Wohle der Musik.