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nmz-archiv
nmz 2003/11 | Seite 30
52. Jahrgang | November
ver.di, Pop
Pop in der Zeitschleife: So viel dröhnender Stillstand war
nie
Keine Revolution mit der Gitarre – Rock- und Popmusik hat
als Provokation längst ausgedient
Seit einigen Jahren hängt Pop in einer Zeitschleife fest,
strudelt orientierungslos rückwärtsgewandt nach vorne
und bleibt dabei auf der Stelle stehen. Das stets Gleiche bemüht
sich gar nicht mehr um den Anschein des Neuen. Nicht der nach vorne
gewandte Trend, sondern das Vertraute bestimmt nun den Markt. Pop
ist zu einer nostalgischen Veranstaltung geworden, was unter anderem
die Beliebtheit sogenannter Pop-Romane erklärt, in denen die
Protagonisten lang und breit ausschmücken, welche Musik bei
ihrem ersten Kuss gelaufen war. Umso bedenklicher, dass dabei fast
immer die Musik, selten der Kuss im Mittelpunkt steht. Pop ist in
einem posthistorischen Zustand angekommen. Nicht nur sämtliche
einmal ins Leben gerufenen Stile, von Soul bis Reggae, von Punk
bis HipHop, existieren weiterhin nebeneinander her, sondern auch
nahezu jede Band hat sich längst wiedergegründet.
Auf Konzerten der Rolling Stones, die starrsinnig genug waren,
sich nie aufzulösen, sind inzwischen ganze drei Generationen
im Publikum vertreten. So mancher Großvater nimmt seine Enkel
mit wie einst nur Kinder in die Oper gezwungen wurden, um ihnen
„noch so richtig handgespielte Musik” schmackhaft zu
machen. Selbst die wilden Sex Pistols kehrten vor einigen Jahren
auf die Bühne zurück und machten deutlich, welche Gefühle
mit solchen Wiederbelebungen befriedigt werden: Es ging um die trügerische
Rekonstruktion von Authentizität. Für dreistellige Eintrittspreise,
zu Tausenden in großen Stadien eingepfercht, konnten sich
die Fans dem Gefühl hingeben, dass die Musik früher doch
irgendwie ehrlicher und rebellischer war. Das Radio liefert hierzu
längst den Soundtrack: Wo nicht gleich die Originale von Elvis
oder Bob Marley gespielt werden, gibt es „In The Ghetto“
und „I Shot The Sheriff“ in neuen, mit HipHop oder Technobeat
unterlegten Versionen, die gleich mehrere Generationen bedienen.
In dieser Wiederkehr von vierzig Jahren Popgeschichte drückt
sich nicht zuletzt aus, dass Pop als Provokation ausgedient hat,
schon lange keinen Generationskonflikt mehr auslöst.
Die Sicherheitsnadeln des Punk sind von klinisch sauberen Piercingstudios
abgelöst worden, das CheGuevara-T-Shirt provoziert kein Aufeinanderprallen
von Ideologien mehr, sondern ist bloß noch Ausdruck von Jugendlichkeit
und Sex Appeal. Es wird deutlich, welch hohes Maß an Selbstüberschätzung
im Spiel war, als gleich mehrere Generationen glaubten, mit Hilfe
einer E-Gitarre die Revolution anstimmen zu können und am Ende
doch nur für eine Modernisierung dieser Gesellschaft sorgten.
Diese Erkenntnis bringt aber auch eine Chance mit sich. Wo Musik
nicht mehr permanent nach dem Neuen Ausschau halten muss, könnte
sie sich auf das besinnen, was ihr am besten ansteht: die direkte
Kommunikation mit dem Publikum, den Ausdruck von Gegenwart. Das
hieße aber auch, die Vergangenheit höchstens als Material,
nicht als nostalgisches Rückzugsgebiet zu begreifen.