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nmz-archiv
nmz 2003/11 | Seite 16
52. Jahrgang | November
Portrait
Konstanter Akt der Befreiung
Der schwedische Komponist Anders Eliasson
Nie ist der „Fortschritt“ in der Musik, was auch immer
man unter ihm verstanden hat, als eine so fragwürdige Kategorie
empfunden worden wie in jüngster Zeit. Und natürlich hat
man Gründe aufgetan: Ein lineares Fortschreiten, womöglich
gar wie in der Automobiltechnik im Sinne eines „immer besser“,
ist in der Kunst eine Absurdität – auch in rein technischer
Hinsicht. Es gibt noch einen anderen Terminus aus der Welt der Autohersteller:
die „innovatorische“ Dimension. Hier verhält es
sich andersherum, ist doch der Automobilbau dazu gar nicht in der
Lage, die Kunst hingegen stirbt ohne diese Impulse. Mit anderen
Worten: Technik macht Fortschritte, Kunst lebt durch Erneuerung.
Diese Erneuerung muss primär eine geistige sein, soll sie den
Menschen ernähren. Der eminente englische Symphoniker Robert
Simpson konstatierte: „What is an ‚advanced idiom’?
This can only come from an advanced idiot. First of all, only the
thought can be advanced.“
Jenseits von allen seichten
Gewässern: Anders Eliasson. Foto: Mats Lundqvist
Was also innen entsteht, sucht sich den Weg nach außen, mit
den geeigneten Mitteln, die Vision Realität werden zu lassen.
Der 1947 in der schwedischen Provinzstadt Borlänge geborene
Anders Eliasson war schon in früher Zeit von jener inneren
Vision beseelt. Als Kind hatte er den Aufstieg als Jazztrompeter
gemacht, war zehnjährig Leader seiner eigenen Jazzband. Existenzielle
Krisen suchten ihn, der „komponierte, um zu überleben“,
heim und er fand Zuflucht in Stockholm bei Valdemar Söderholm,
der ihn in jahrelangem Studium in die Welt Johann Sebastian Bachs
einweihte. Dann studierte Eliasson Komposition bei Ingvar Lidholm,
einem führenden Vertreter der herrschenden „modernen“
Ästhetik. Er durchlief verschiedene experimentelle Phasen und
fand, dass er sich von der wahren Musik schmerzlich entfernte. Um
1970 fand er einen Weg, der sich ihm als unerschöpflich auswies.
Er war auf das gestoßen, was er als sein „Alphabet“
bezeichnete – technisch gesprochen einfache Modi lydischen
und dorischen Charakters, die eine Ausdruckswelt ohne die Limits
erfundener, komplexer und eben auch artifizieller Systeme eröffneten.
Das Komponieren ist für ihn das Hineinhören in die der
Musik innewohnenden Triebkräfte, ganz im Sinne des von Sibelius
ausgesprochenen Satzes: „Ich bin der Sklave meiner Themen.“
Der Komponist findet einen geeigneten Anfang und nun „bin
nicht ich es, der zu einem Ende kommt. Es ist die Musik selbst und
ich versuche, meine Finger heraus zu halten.“
Eliasson ist sich gewiss, eine neue Tonalität entdeckt (nicht
erfunden!) zu haben, die die Geschlechterdualität des Dur-Moll-Systems
transzendiert – nicht als Fortschritt im Sinne einer blind
anmaßenden Verbesserung, sondern als Schritt in eine andere
Dimension, die damit auch die mit den Hörerwartungen verbundene
Sentimentalität hinter sich lässt, jene Fangfessel der
herkömmlichen Tonalität, die mit dem Sprung in die „Atonalität“
zwar abgeschnitten, doch keineswegs überwunden war –
und man kann nicht übersehen, dass die allerorten geübten
Versuche, die alte Tonalität zu reanimieren, mehr denn je von
den seichten Gewässern sentimentaler Anhaftung bedroht sind.
Die Dimension, in welcher sich Eliassons Musik bewegt, wird von
Beobachtern gerne als „kosmisch“ charakterisiert, was
sicher durch die schwerelose Dynamik des Geschehens bedingt ist.
Diese Musik ist tatsächlich immer im Fluge, stets in Kontakt
und in unausgesetzter Wechselwirkung mit einander entgegengesetzten
Gravitationszentren und sich in der Konsequenz doch immer über
diese hinwegsetzend, ein konstanter Akt der Befreiung, sozusagen
eine zwölftönig multiple Grundtönigkeit. In diesem
freien Raum sind die Protagonisten, also die Themen, unerhörten
Energieströmungen und gewaltigen Störimpulsen ausgesetzt
und die Kunst der organischen (aus sich selbst wachsenden) Gesamtformung
als lebendigem Prozess liegt darin, diese Protagonisten über
alle Klippen hinweg zu retten. Wohin? „Das hängt nicht
von mir ab, sondern von der Musik.“ Diese Musik fordert vom
Hörer bedingungslose Hingabe, lässt keinen Raum für
Zerstreuung, das träge Verweilen in Zuständen und Stimmungen.
In Schweden ist Eliasson wie alle seine wirklich genialen Vorgänger
(nicht nur der von Eliasson so bewunderte Allan Pettersson) höchst
umstritten. In Deutschland kennt man ihn noch kaum. Das will überhaupt
nichts besagen, als dass er anpassungsresistent ist. Allerdings
fällt sein Name in letzter Zeit doch viel häufiger und
manch anspruchsvoller Musiker sieht in seinem hochkonzentrierten
Schaffen den höchsten Gipfel zeitgenössischen Komponierens,
so beispielsweise der Altsaxophonist John-Edward Kelly. Dieser hat
am 30. Juni diesen Jahres in Vaasa mit dem Ostrobothnian Chamber
Orchestra unter Juha Kangas Eliassons jüngstes Konzert für
Altsaxophon und Streicher uraufgeführt. Kelly bekennt freimütig,
dass es „das schwerste Werk ist, was für mein Instrument
existiert“, aber zugleich auch eine weitgespannte Komposition
von unausschöpflicher Substanz. Für die Ausführenden
gewiss außerdem ein extremer Selbsterfahrungstrip, wollen
sie die unter der bewegten Oberfläche pulsierenden Energien
in all ihrer Mannigfaltigkeit und Unmittelbarkeit zu tönender
Aussprache bringen. Vielleicht bedarf es jahrelanger Beschäftigung,
um hier den Kern ganz offenzulegen. Am 12. Februar des kommenden
Jahres werden Kelly und Kangas mit dem Münchner Kammerorchester
das Werk erstmals hierzulande präsentieren. Ein anderer, der
sich intensiv mit Eliassons Sprache einließ, ist der Oboist
Ingo Goritzki. Als künstlerischer Leiter holte er den Komponisten
im Juni diesen Jahres zum „Sommersprossen“-Festival
ins schwäbische Rottweil. Im wuchtigen alten Kraftwerk am Neckar
gaben der Trompeter Wolfgang Bauer und das Percussion Ensemble Stuttgart
eine vorzügliche Aufführung von „Kimmo“, sozusagen
eines Trompetenkonzerts mit Metallorchester. Unter den Kammermusikaufführungen
sei mit exemplarischer Qualität das dicht verschlungene „Dai
cammini misteriosi“ für zwei Oboen, Fagott, Kontrabass
und Cembalo genannt. In Uraufführung wurden „Wellen“
für Fagott und Klavier und „Pentagramm“ für
Oboe, Klarinette, Horn, Fagott und Klavier gegeben – letzteres
ein fünfteiliges Stück von geradezu klassischer Ausgewogenheit
und laut Eliasson (vielleicht mit einem leichten Seitenblick auf
das Mozart’sche Meisterwerk in diesem Genre) „die schwerste
Kombination von Instrumenten, für die ich bisher geschrieben
habe“. Eliassons jüngstes Werk für Streichorchester
heißt „Ein schneller Blick, ein kurzes Aufscheinen“
und kommt am 15. November in Stockholm zur Uraufführung. Und
kurz zuvor gibt es in der Münchner musica viva am 7. November
die deutsche Erstaufführung von Eliassons Dritter Symphonie
für Altsaxophon und Orchester durch den Widmungsträger
Kelly und das BR-Symphonie-Orchester unter der Leitung von Udo Zimmermann.
Endlich erreicht dieses 1989 entstandene, fünfteilige symphonische
Drama in einem Satz, welches für Kelly den „einsamen
Höhepunkt der Literatur für Saxophon und Orchester“
bildet, die nichtskandinavische Hörerschaft.