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nmz-archiv
nmz 2003/11 | Seite 17
52. Jahrgang | November
Rezensionen
Staunen, Verstörung
Das Finale von Bruckners 9. Sinfonie
Vervollständigungen fragmentarisch überlieferter Werke
sind für die Musikwissenschaft Segen und Fluch zugleich. Segen,
weil das Fach selten Gelegenheit hat, seine Legitimation so öffentlichkeitswirksam
zu beweisen. Fluch, weil man es bei dieser heiklen Tätigkeit
niemandem Recht machen kann: dem Musikliebhaber nicht, dem das Unvollendete
schon so ans Herz gewachsen ist, dass ihn eine Rekonstruktion als
Schändung des Heiligtums schmerzt; dem Kollegen von der forschenden
Zunft nicht, der alles ganz anders und selbstredend viel besser
gemacht hätte – hätte man ihn nur gelassen.
Der zerklüftete Torso
als Gegenstand ehrfürchtiger Kontemplation: das programmatische
Artwork der Sony-Einspielung.
Kaum anders liegt der Fall des Finales von Bruckners neunter und
letzter Sinfonie, mit einem entscheidenden Unterschied: Im Gegensatz
zu Mozarts Requiem oder Mahlers Zehnter hat die Diskussion sehr
spät eingesetzt, erreicht erst jetzt mit der zeitnahen Veröffentlichung
dreier Einspielungen sowie einer Buchpublikation ihren vorläufigen
Höhepunkt und ein breiteres Publikum. Grund dafür ist
die lange Zeit auch von Musikhistorikern gestützte Einschätzung,
Bruckners Neunte bedürfe des Finales eigentlich gar nicht,
runde sich allein mit dem visionären Adagio zum ergreifenden
Schwanengesang des kranken Sinfonikers, ja Bruckner selbst habe
dies im Grunde gespürt und deshalb nur Bruchstücke eines
Finales hinterlassen.
Wenig bekannt (gemacht) war indes, wie weit diese Arbeit schon
gediehen war und wie leicht eine aufführbare Version hätte
erstellt werden können, wären nicht im Zuge schlampiger
Nachlassverwaltung Manuskriptseiten verloren gegangen. Dass das
Vorhandene immer noch ausreicht, um sich ein ebenso faszinierendes
wie verstörendes Bild vom Stand der Finalkonzeption zum Zeitpunkt
von Bruckners Tod zu machen, dafür geben die im Rahmen der
Gesamtausgabe beim Musikwissenschaftlichen Verlag (Wien) veröffentlichten
Noten ebenso Zeugnis wie die nun vorliegenden Tondokumente.
Dabei gehen sie von drei konträren Prämissen aus: Die
zum ersten Mal 1998 erschienene und nun bei Naxos wiederveröffentlichte
Aufnahme präsentiert die von dem Autorenteam Samale –
Phillips – Cohrs – Mazzuca besorgte Vervollständigung
des Finales (schon Eliahu Inbal hatte sie in seine Gesamtaufnahme
miteinbezogen); BMG dokumentiert das Gesprächskonzert von den
letztjährigen Salzburger Festspielen, bei dem Nikolaus Harnoncourt
zunächst das überlieferte Material in seiner fragmentarischen
Form erläuterte und dirigierte, bevor die Wiener Philharmoniker
nach der Pause die drei überlieferten Sätze (hinreißend)
spielten; Peter Hirsch schließlich legt bei Sony seine Version
dieser Fragmente vor und koppelt sie mit Georg Friedrich Haas‘
großartigem „Torso“, nach Schuberts unvollendeter
C-Dur-Klaviersonate (D 840). Bleibt bei Hirsch die Sinfonie also
in ihrer liebgewonnen dreisätzigen Form unangetastet (weil
gar nicht gespielt), so wird diese bei Harnoncourt vom eingangs
gehörten Finalmaterial zumindest indirekt affiziert, während
die Naxos-Aufnahme ganz auf den rekonstruierten Schlusssatz zuläuft.
Nichts leichter als an dieser Vervollständigung herumzumäkeln,
gäbe es da nicht einen Haken: Vereinfacht gesagt klingt (von
der auf viel Spekulation angewiesenen und wenig überzeugenden
Coda abgesehen) das Rekonstruierte eher nach Bruckner als das Originalmaterial;
als würde die Sprengkraft seiner Inspiration vom geballten
Musikologenwissen mehr eingeebnet denn freigelegt. Man wird das
Gefühl nicht los, dass da irgendetwas nicht stimmen kann und
hat auch am hemdsärmeligen Spiel der Neuen Philharmonie Westfalen
unter Johannes Wildner wenig Freude.
Ungläubiges Staunen dann vor den im Original belassenen Fragmenten:
Nicht, dass Bruckner eine monumentale Ausdehnung konzipierte und
wie in den vorausgegangen Sätzen zu neuen Formlösungen
vorstieß, verwundert, sondern die Kompromisslosigkeit der
thematischen Setzungen und ihrer Verarbeitung. Aus der punktierten
Urzelle speist sich nicht nur das unwirtliche, das chromatische
Total ausschreitende Hauptthema, sondern auch die Gesangsperiode,
die – zunächst desolat kreisend – erst durch die
Gegenstimme zu einer solchen wird. Am ehesten darf man sich noch
beim grandiosen Choralthema zu Hause fühlen, das in der Exposition
an der üblichen dritten Position steht. An die Durchführung
(hier reißt die erste Lücke im Überlieferten auf)
schließt sich dann aber eine derart gewagte Fugenexposition
an, dass deren fehlende Fortführung beinahe schon außerhalb
des Vorstellungsvermögens liegt. Und ein neues triolisches
Hörnerthema mündet nach zunächst triumphaler Geste
buchstäblich im Nichts, was dem Eintritt der Reprise mit der
Gesangsperiode den Charakter des Ratlosen, Vorläufigen verleiht.
Hinzu kommen harmonische Härten, von denen die in Harnoncourts
Gesprächskonzert einer geglätteten Variante gegenübergestellte
nur die exponierteste ist (Track 3, T. 259–262; bezeichnend,
dass sich die erste Trompete beim Gesamtdurchlauf des ersten Fragments
in Track 2 an dieser Stelle verspielt und die beißende None
zu früh in die Oktav auflöst). Dem Staunen über Bruckners
Kühnheiten steht freilich auch die Enttäuschung über
manches nicht nur unfertig, sondern auch uninspiriert wirkende gegenüber,
so etwa über einige wenig zwingende Steigerungspartien. Sie
führen uns auf den Boden der Realität zurück, die
nun einmal besagt, dass Bruckner Aufführungen dieser Fragmente
wohl ebenso abgelehnt hätte wie diejenigen seiner Sinfonie
in dreisätziger Gestalt. (Bekanntermaßen verfügte
Bruckner, dem Adagio das Te Deum folgen zu lassen, was sich jedoch
nicht durchsetzte.)
Insofern ist dem Bruckner-Forscher Manfred Wagner zuzustimmen,
der im neuen Band der Musik-Konzepte klarstellt, „daß
es eben keinen kompletten Finalsatz der Neunten Symphonie gibt und
daher weitere Aufführungen wenn überhaupt dann nur zu
Studienzwecken legitim sind“ (S. 210) Es ist schade, dass
dies die einzige in diesem Sinne kritische Stimme in der Aufsatzsammlung
ist, die es sich ansonsten zum Ziel gesetzt hat, den Finalsatz und
– wie die Autoren meinen – damit die Sinfonie als Ganze
„aus dem Fegefeuer der Rezeption“ zu retten. Am stärksten
engagiert sich hier Benjamin-Gunnar Cohrs, der den Band zusammenstellte
und die meisten Beiträge schrieb. Sympathisch ist dabei sein
Einsatz in der Sache, den er auch in den Booklettexten zur BMG-
und zur Naxos-Aufnahme an den Tag legt, über jeden Zweifel
erhaben die fachliche Kompetenz, mit der er und auch der Herausgeber
der Fragmente John A. Phillips arbeiten (ihrem gemeinsamen Beitrag
ist dankenswerterweise ein Übersichts-Particell beigefügt);
weniger sympathisch dagegen der Tonfall, mit dem Cohrs Andersdenkende
bisweilen abfertigt. Etwas mehr Gelassenheit den wissenschaftlich
fragwürdigen Freiheiten gegenüber, die Peter Hirsch sich
erlaubt (und die Cohrs in einem Leserbrief an die Neue Zeitschrift
für Musik geißelte), wäre dem Gegenstand durchaus
angemessen.
Semantische Deutungsversuche von Hartmut Krones und Constantin
Floros ziehen die nahe liegenden Querverbindungen zum Gesamtschaffen
des Komponisten; ausführliche diskografische und bibliografische
Angaben sowie Statements dreier für das Finalfragment sich
einsetzender Dirigenten runden den gleichwohl brisanten und aufschlussreichen
Band ab. (In der Transkription von Harnoncourts Konzerteinführung
wurde glücklicherweise seine aus der Luft gegriffene Hypothese
gestrichen, in der Finalcoda habe Bruckner geplant, Themen aus mehreren
seiner Sinfonien übereinander zu türmen.)
Hirschs vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin gut präsentierte
Lesart mag an der Legende des Unvollendeten weiterstricken; als
eine nur von Pausen, nicht aber von Zwischentexten unterbrochene
Alternative zur Wiener Aufnahme bleibt sie willkommen. Nikolaus
Harnoncourt macht vor, was in einem solch heiklen Fall gefragt ist:
ein Vermittler zwischen Forschungszusammenhängen und klingender
Konsequenz, ein Charismatiker, der den Fluch der Vervollständigung
bannt.
Juan Martin Koch
Diskografie
Franz Schubert/Georg Friedrich Haas: „Torso“. Nach
der unvollendeten Klaviersonate C-Dur, D 840; Anton Bruckner:
IX. Symphonie – Finale (unvollendet). Dokumenation des Fragments
(vorgelegt von John A. Phillips; Revision: Peter Hirsch);
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Peter Hirsch
Sony Classical SK 87316
Anton Bruckner: Symphonie Nr. 9. Mit der Dokumentation des Fragments
(hrsg. von John A. Phillips); Wiener Philharmoniker, Nikolaus
Harnoncourt
BMG Classics (RCA Red Seal) 82876 54332 2 (2 CDs)
Anton Bruckner: Symphonie Nr. 9. Mit der Aufführungsversion
des Finales von Samale – Philips – Cohrs – Mazzuca;
Neue Philharmonie Westfalen, Johannes Wildner
Naxos 8.555933-34 (2 CDs)
Literatur Bruckners
Neunte im Fegefeuer der Rezeption (Musik-Konzepte Heft 120/121/122;
in Zusammenarbeit mit Benjamin-Gunnar Cohrs hrsg. von Heinz-Klaus
Metzger und Rainer Riehn), München (edition text & kritik)
2003. 245 S.; € 26,00, ISSN 3-88377-738-2