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nmz-archiv
nmz 2004/03 | Seite 35
53. Jahrgang | März
Oper & Konzert
Veränderungen, immer wieder Neues
„6 Tage Oper“ – 4. Europäisches Festival
für Neues Musiktheater in Düsseldorf
Abseits der Metropolen des internationalen Festival- und Opernbetriebes
hat sich im rheinischen Düsseldorf ein Treffpunkt experimentellen
europäischen Musiktheaters etabliert. Die als Veranstalter
firmierende „Europäische Vereinigung für Kammeroper
und Musiktheater e.V.“ versteht sich freilich nicht als Standesorganisation.
EVKM ist vielmehr Kürzel für den Zusammenschluss von Theaterliebhabern
und Theatervisionären aus der freien Szene. Bereits zum vierten
Mal ist es jetzt gelungen, ein wochenfüllendes Programm auf
die Beine zu stellen. Vielfach in Koproduktion entstanden, präsentierten
vom 9. bis 14. Februar Ensembles aus sieben Ländern fünf
Ur- und Erstaufführungen – jede Produktion in einem eigenen
Raum, an einem besonderen Ort. Die Suche nach dem Musiktheater der
Zukunft hat mit „6 Tage Oper“ einen neuen Namen, eine
gewichtige Adresse hinzu gewonnen.
Jo ist blind, aber neugierig – auf Maschinen, auf Baustellen,
Glaskuppeln, kurz, auf Veränderungen, auf alles, was jenseits
ihrer künstlichen Welt liegt, jenseits des geschlossenen Kastens
ihrer Pseudo-Existenz, ihrem „Zuhause“, wie der Vater
sagt. Der kann zwar sehen, will aber keinen Gebrauch davon machen.
Die Welt entdecken? Ach was! Als erfolgreicher Unternehmer glaubt
er zu wissen, dass die Welt schlecht ist, zumindest ganz anders,
als Jo sie sich erträumt. Er beschließt, Jo vor der Welt
zu retten. Konsequent spinnt er die Tochter ein in den Kokon seiner
immerwährenden Fürsorge. Nichts soll ihr fehlen! Dafür
hat ein Heer von dienstbaren Geistern Sorge zu tragen. Dass es schließlich
ausgerechnet die beiden Handwerker vor dem Haus sind, die Jos Selbstbefreiung
initiieren, ist der väterliche Webfehler dieser Rechnung.
Totenklage: Bildszene aus
„Sestina“. Foto: Theater Kontrapunkt
Soweit der Plot einer Geschichte, aus der unter anderen Umständen
eine Novelle, ein Fernsehspiel, ein Kinofilm hätte werden können.
Auf dem Düsseldorfer Festival „6 Tage Oper“ ist
daraus Musiktheater geworden – kein Meisterwerk, aber ein
intelligent gemachtes Theaterstück, das die üblichen Schablonen
des Repertoiretheaters durch einfache, aber wirksame Kunstgriffe
hinter sich lässt: zwei Sprechrollen, Vater und Tochter, auf
der Bühne, zwei Sänger als sirenenhafte Handwerker davor
und das siebenköpfige „ensemble für neue musik zürich“
als eifriges Hauspersonal mal da, mal dort. Immer wieder treten
die Instrumentalisten um Jürg Henneberger in die Szene, um
zu hantieren, zu assistieren, aber auch um zu kommentieren, um aufkommenden
wie unterdrückten Emotionen Gehör zu verschaffen: statt
strikter Trennung der Sphären herrscht in „Kein Blasser
Schimmer“, Koproduktion aus „Theater Kontrapunkt“
Düsseldorf und „ensemble neue musik zürich“,
Osmose, Austausch. Ein intelligentes Konzept für ein intelligentes
Publikum.
Über den mit Rollos halb verhängten, halb geöffneten
Bühnenkasten tastet sich Jo ins Leben, erklimmt zum Schluss
Bäume und Leitern. Unter der Regie von Frank Schulz, zur etwas
allzu funktionalen Bühnenmusik von Matthias Heep agiert Annette
Bieker traumwandlerisch sicher als blinde Jo im zum Theatersaal
verwandelten Düsseldorfer Robert-Schumann-Saal. Festival-Organisatorin
ist sie nur im Nebenjob:
„Ich bin Musiktheaterschauspielerin“, sagt Annette
Bieker und beklagt hierzulande herrschende Einschränkungen.
Entweder einer ist Mime oder Sänger, Sprecher oder Tänzer.
Tertium non datur. Darüber hinaus würden die Opernhäuser
Sänger in erster Linie auf Grund deren Gesangsqualität
aussuchen. In freien Musiktheatern sei dies schon lange nicht mehr
so. Dort würden vielmehr Darsteller gebraucht, so die EVKM-Vorsitzende,
„die mit dem Körper mit der Stimme, mit allem operieren
können und nicht eingeschränkt sind auf ein Element“.
Und mit Bestimmtheit fügt sie hinzu: „Das ist mein Interesse
am Musiktheater und das ist auch das Interesse der Gruppen, die
wir zur „6 Tage Oper“ einladen – diese ganzheitliche
Form von Theater.“
Die auch singende Schauspielerin, die wie selbstverständlich
schauspielernden Sänger, die in der Szene agierenden Musiker
– dem erweiterten Aufgabenbereich der Interpreten korrespondiert
eine obsessive Lust am Entdecken und Bespielen neuer Orte und Räume:
Küche, Keller, Bad als die allerprivatesten Domizile werden
ebensogut zu Schauplätzen wie der Kuhstall, die Cafeteria einer
Nervenklinik oder die alte Lagerhalle.
„Stundenlang – Die Alzheimerdreivierteltaktoper“
des niederländischen Komponisten Gerad Ammerlaan, entstanden
als Koproduktion zwischen „6 Tage Oper“ und der niederländischen
Compagnie „Stichting Aa“ aus Groningen, präsentierte
sich als ein berührendes Stück Musiktheater um eine Tochter,
die ihre von Alzheimer gezeichnete Mutter ins Heim bringt. Der Spielort,
die Cafeteria einer Düsseldorfer Nervenklinik, war angemessen.
Die Reaktionen der Zuschauer, darunter zahlreiche Betroffene, Pflegerinnen,
Pfleger und deren Angehörige, unterstrichen nicht nur die Kunstfähigkeit
dieser grassierenden Vergesslichkeitskrankheit, sondern zeigten,
dass das Theater in die Klinik, nicht die Klinik ins Theater kommen
muss.
Aufgesetzt wirkte hingegen die in den Kuhstall platzierte Bauernoper
„Doodgoed“ des niederländischen Musiktheaters „Struweel“
aus Heythuysen. Der Existenzkampf eines Ehepaares, allzu plakativ
als EU-Agrarreform-Opfer vorgeführt, erscheint nicht unbedingt
authentischer, wenn er vor mampfenden Rindern zur Darstellung kommt.
Dabei verhielten sich die Tiere erstaunlich ruhig – der Lärm
kam in diesem Fall aus den Lautsprecherboxen. Eine im Pseudorealismus
verfangene Regie zusammen mit einer nicht vorhandenen Klangregie
machten aus der Bauernoper das Bauernopfer des Festivals. Auch „6
Tage Oper“ ist vor den Untiefen des Zeitgeistes nicht gefeit.
So blieb auch die von Michael Iber konzipierte Tanz-Computer-Produktion
„Zugzwang“ gefangen im technoziden Aufbau. Tänzerin
Canan Erek übersetzte Lautsprecher-Rhythmen und Störgeräusche
in zuckende Körperbewegungen – eine Marionettenästhetik
ohne Ausweg.
Dass der Festivalhöhepunkt sich in einer Galerie gewordenen
alten Lagerhalle ereignen sollte, war so nicht prognostizierbar.
Doch hier, in einer leer geräumten Industriekathedrale wurde
die vierte Festivalausgabe „6 Tage Oper“ schließlich
von der Muse geküsst. Die Koproduktion mit „Muziektheater
Transparant/Zonzo Compagnie“ Antwerpen bescherte Klänge,
die auf einem Festival für neues Musiktheater schlichtweg niemand
erwarten konnte.
Das fantastische junge Ensemble „Canto Rubino“ aus
Antwerpen durfte bei seiner Liebeserklärung an Claudio Monteverdi
beobachtet und belauscht werden. Monteverdis Madrigal „Sestina“,
ein Trauergesang um die von ihm hoch geschätzte Sopranistin
Caterina Martinelli, wurde von „Canto Rubino“ nicht
wie üblich in chorischer Aufstellung interpretiert, sondern
dessen Bühnenpotenzial wurde aufgedeckt.
Zu Gamben- und Lautenbegleitung agierten die fünf Musiker
in der Szene – gestützt, nicht behindert vom gebrochenen
Realismus einer gestischen Inszenierung, einer zurückhaltenden
Meer- und Wolken imaginierenden Video- und Soundinstallation, die
hier, wahrhaft selten zu sehen und zu hören, einmal kongenial
eingesetzt war. Montverdi als Mix aus Gesang und Elektrosound, Körperbewegung
und Szene, Videoinstallation und zeichenhaftem Bühnenbild.
Eine Uraufführung von überragendem Format.
„Veränderungen! Immer wieder Neues!“ –
mit den Ausrufen der Überraschung und des Erstaunens tastet
sich die blinde Jo in ihre neue Welt. Solange dieses Staunen, diese
Neugierde produktiv werden, wird das Musiktheater der Zukunft in
die Gegenwart hineinreichen. Dass sich dabei ausgerechnet Düsseldorf
zu einem Knotenpunkt der aktuellen Suche nach dem Neuen (auch) in
der Kunst etabliert hat, ruft seinerseits nicht geringes Staunen
hervor.