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nmz-archiv
nmz 2004/03 | Seite 37
53. Jahrgang | März
Oper & Konzert
Doppelte Beredsamkeit
Luciano Berios „Stanze“ posthum in Paris uraufgeführt
Augenblicke der Stille, der inneren Bewegtheit im Théatre
Mogador: Der Dirigent Christoph Eschenbach und das Orchestre de
Paris hatten soeben die letzte Komposition Luciano Berios uraufgeführt:
„Stanze“ für Bariton, drei Männerchöre
und großes Orchester, komponiert in den Jahren 2002 und 2003
im Auftrag des Orchestre de Paris. Im Mai 2003 starb der Komponist,
sein Werk konnte er nur mit dem inneren Ohr erfahren. Berio widmete
es dem Architekten und Freund Renzo Piano. „Stanze“
bedeutet im Italienischen nicht nur eine Strophenform, sondern auch
„Wohnraum“ in überhöhender Bedeutung: ein
besonderer, gleichsam magischer Raum, in dem sich poetische Gedanken
versammeln. Durch Fenster und Türen dringen die Gedanken und
Phantasien in das Haus und dessen viele Räume ein. Und die
Schöpfer dieser Poesien heißen hier Paul Celan, Giorgio
Caproni, Edoardo Sanguineti, Alfred Brendel und Dan Pagis.
Luciano Berio. Foto: C.
Oswald
Im Haus und dessen Räumen empfängt sie der Komponist
Luciano Berio: mit einem großen Orchester, einem wunderbaren
Sänger und drei stattlichen Chören, nur Herren, in dunkelblauen
Marineuniformen (es ist der Chor der französischen Armee).
Berios Musik öffnet sich sensibel den Texten, ergreift deren
Gedanken und Empfindungen, zieht sie unmerklich in ihre fein ausgehörten
Klänge hinein, verwandelt die Worte in Musik, gibt ihnen so
eine doppelte Beredsamkeit. Paul Celans „Tenebrae“ steht
am ergreifenden Beginn, ein ganz nach innen gerichtetes Lamento
von großer Ausdrucksintensität. Giorgio Capronis „Congedo
del Viaggiatore“ ist eine lichtvolle Metapher des Todes: rhythmische
Figurationen evozieren die Vorstellung der „Reise“ in
ein fernes Land. „Addio“ heißt es am Schluss:
„Ich steige hinab, und gutes Weiterleben“. Das besitzt
eine fein ziselierte Ironie, auch in der Musik.
Im Mittelpunkt der fünfteiligen „Stanze“ findet
sich der Text Edoardo Sanguinetis, eine Art mythologischer Reflexion
in Kürzelsprache über Gott und Mensch, zu der Berio eine
schwebende Musik von großem Kontrastreichtum komponierte.
Alfred Brendels Text in englischer Sprache bringt in raffiniert
ironisierender Manier den Heiligen Geist und die „Tritsch-Tratsch“-Polka
des Walzerkönigs zusammen, und Berio findet dafür den
passenden musikalischen Gestus. Den Bogen zu Celans „Tenebrae“
schlägt dann Dan Pagis’ „Die Schlacht“, das
schmerzende Entsetzen über die Toten des Krieges. Berios Musik
gewinnt hier eine bannende Ausdrucksmacht.
„Stanze“ ist Berios Vermächtnis, und in diesem
Sinne musizierten Orchester, Chor und der Bariton Dietrich Henschel
unter Christoph Eschenbachs sensibler und zugleich präzis formender
Hand mit spürbarer innerer Hingabe.