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nmz-archiv
nmz 2004/03 | Seite 33-34 53.
Jahrgang | März
Oper & Konzert
Neue Musik fürs Kino
Stuttgarts „Èclat“ im neuen Theaterhaus
Spricht man über die „Pflegestätten“ der
Neuen Musik, fallen zumindest in Deutschland immer wieder die Namen
Donaueschingen und Witten. Dort die Uraufführungen großformatiger
Neuheiten für Orchester, hier kammermusikalische Novitäten.
Das stimmt natürlich schon seit längerem nicht mehr so.
Die Festivals der Neuen Musik diversifizieren ihre Angebote wie
ein großer Konzern. Ob Donaueschingen, Witten oder Musica
Strasbourg – um nur drei Beispiele zu nennen: Das Produkt
Neue Musik pur, neue Werke in Ur-und Erstaufführungen, wird
ständig und mit wachsenden Anteilen im Gesamtprogramm durch
Produkte aus anderen künstlerischen Gattungen ergänzt.
Installationen, Performances, Film, Video, szenische, pantomimische,
tänzerische Aktionen treten an die Seite der Musik, erweitern
die ästhetischen Perspektiven, entdecken korrespondierende
Tendenzen, Analogien in den Ausdrucksmitteln, strukturelle Koinzidenzen:
das Festival Neuer Musik als synästhetisches Gesamtkunstwerk
– warum nicht. Und in der Mitten der Mensch als Zuschauer,
der sich im Labyrinth der ihn umtosenden Einflüsse als Individuum
zu finden und zu behaupten versucht.
Handspiele über drei
Oktaven: die Neuen Vocalsolisten Stuttgart in einer Komposition
von Francois Paris. Foto: Charlotte Oswald
Am weitesten vorangeschritten in der Amalgamierung der künstlerischen
Gattungen, zu denen für die Musik auch noch der so genannte
U-Bereich mit Jazz, Pop und Rock tritt (in Donaueschingen gehört
der Jazz traditionell zum Programm), sind derzeit wohl die Tage
Neuer Musik in Stuttgart, die sich seit einigen Jahren den griffigen
Namen „Éclat“-Festival zugelegt haben.
In diesem Jahr findet „Éclat“ zum ersten Mal
in Stuttgarts neuem Theaterhaus auf dem Pragsattel, einem großzügig
aus-und umgebauten ehemaligen Fabrikkomplex, statt. Fünf Säle
von sehr groß über mittelgroß bis intim, ein voluminöses
Foyer sowie Büroräume für den Verein „Musik
der Jahrhunderte“, der „Éclat“ und viele
weitere musikalische Veranstaltungen betreut, gestatten für
die Arbeit entsprechend großzügige Dispositionen, lassen
die Beengtheit im ehemaligen Theaterhaus im Stadtteil Wangen vergessen,
wobei nicht vergessen sei, dass Wangen immer eine ungewöhnlich
sympathische Atmosphäre ausstrahlte.
Das „Éclat“-Festival 2004 begann schon mit Betreten
des Foyers: In einem körpergroßen Glaskasten agieren
ein Mann mit Hut und Anzug und eine halbnackte Frau. Sie führen,
getrennt durch eine durchsichtige Wand, ein „Drama“
mit kräftigen sexuellen Verrenkungen auf. Körperhaltungen,
Gesten, Bewegungen erinnern an Robert Longos „Men in the cities“-Bilder.
Dann krümmen sich einzeln und fast nackt ein Mann und eine
Frau in kleinen gläsernen Kuben, wühlen sich immer tiefer
in wachsende Zeitungshaufen ein, auch in den Toiletten und in einem
überfluteten Becken agieren die Performance-Künstler der
Fabian-Chyle-Truppe zu Geräusch-, Wort-, Stimm- und Klangaktionen
von Nikola Lutz. „Misplace X“ nennen Chyle und Lutz
ihre Performance-Installation mit „Sound Skulpturen“.
Der vorbeigehende oder zuschauende Betrachter gehört mit zum
„Körper-im-Raum-Spiel“, Phänomene wie Nähe
und Distanz, Intimität und öffentliche Präsentation
werden reflektiert, in gewisser Weise auch kritisch. Deformationen
der Psyche durch äußeren Druck führen zugleich in
die physische Verzerrung und Verkrüppelung.
Das berührt direkt auch die Musik: Besagter Robert Longo und
der Regisseur Peter Mussbach haben das einmal beispielhaft an Mozarts
Oper „Lucio Silla“ in Salzburg demonstriert. In Stuttgart
gab es noch ein anderes Beispiel in einer zweiten Performance: „wolven“
(Wölfe) nennt Sabina Holzer ihr Solo-Stück, in dem sie
spielt, tanzt, pantomisch agiert, auch Körperakrobatik einsetzt,
um das „Phänomen Wölfe“ zu erforschen, auch
die seltsame, von Furcht und Undurchsichtigkeit geprägte Beziehung
zwischen Tiert und Mensch. Märchenmotive spielen hinein, der
wölfische „Drang nach Bewegung und Freiheit“, der
insgeheim auch im Menschen verborgen liegt. Musik (Ludwig Becic),
Geräusche, Stimmen, Melodiefetzen, Videobilder bilden den Klang-Bild-Raum,
in dem sich Sabina Holzers Aktionen vollziehen, gleichsam körperlich-psychologische
Korrespondenzen zwischen Mensch und Tier. Das besitzt viel Plausibilität,
könnte in der Darstellung sicher noch an Plastizität und
psychischer Dringlichkeit gewinnen.
Der Film bildete im „Éclat“-Programm dieses
Mal eine eigene Säule: Jochen Kuhns meist nur kurzen, wenige
Minuten dauernden Filmen entspringen schnellen, flüchtigen
Erfahrungen und Beobachtungen von „Mensch und Welt“.
Der Autor fungiert als Beobachter, Kommentator, Mitspieler. Die
Figuren erscheinen manchmal real, meist aber gezeichnet oder zart
aquarelliert wie auch die Umwelt mit Straßen und Häusern.
Hinzu treten Klänge, Geräusche, Stimmen: Ein Mann erklärt
einer Frau an der Haltestelle spontan seine Liebe, er will sie sofort
heiraten, doch in der nächste Minute ist sein Gefühl schon
wieder entschwunden: Marivaux lässt grüßen. Kuhns
Filme besitzen eine schöne poetische Realistik, Witz und Humor,
Sinn fürs Groteske. Es ist gefilmtes Menschentheater, das die
großen Stummfilmkomiker, besonders Bus-ter Keaton, auf persönliche
Art beschwört. Zu einigen dieser Filme haben für „Éclat“
junge Komponisten eine eigene Musik geschrieben, die an die Stelle
der originalen Musik trat. Moritz Eggerts „Hämmerklavier
XVI“ zu Kuhns Stummfilm-Horror-Imitation mit dem Titel „Der
Höllenfranz“ entfaltete dabei etlichen Klang- und Geräuschwitz
mit schwarz-grotesker Gestik. Doch erscheint das Verhältnis
zwischen Film und autonomer Musik weiterhin kompliziert zu sein,
wie andere Arbeiten offenbarten.
Natürlich bot das Programm auch Neue Musik „pur“.
Uraufführungen stellten sich dabei in sinnvollen Beziehungen
zu schon bekannten Werken. „Éclat“ will nicht,
wie Donaueschingen, zur Novitäten-Messe werden. Akademisches,
vorsichtig Tastendes, Nach-innen-Lauschendes (Klaus K. Hüblers
Orchesterwerk „Vanitas“), Gefälliges, auch Witziges
lösten einander kontrastreich ab. Größere Formate
hörte und sah man im Schlusskonzert: Das SWR-Vokalensemble
Stuttgart unter Leitung Rupert Hubers bot als Uraufführungen
Hector Moros „...tocando manana“ für Posaune, Kontrabassklarinette
und 32 Singstimmen“ sowie Gerhard E. Winklers Requiem boréal
„Flechten-Filamente“ für 36 Solostimmen, Äste
und interaktive Live-Elektronik: Eine klingende Reflexion über
unser Verhältnis zur Natur, hochkompliziert gesetzt und strukturiert,
im unmittelbaren Hören von großer Innenspannung und einer
fast altmodischen Expressivität erfüllt. Ein starkes Werk.
Gerhard E. Winklers Komponieren gewinnt immer überzeugender
und souveräner an Sprachqualität, Dichte und Individualität.
Unter den weiteren Neuheiten fiel noch Marco Stroppas fein ausgehörte
Kurtág-Huldigung „Omaggio à Gy. K.“ durch
ihren sicheren kompositorischen Gestus auf. Auch Robert Morans „Pegasus“
für Flöte, Viola und Harfe huldigt in drei Sätzen
den Komponisten Joseph Matthias Hauer, Kazio Ohno und Hans Erich
Apostel. Die Instrumente werden ohne spezielle Individualisierung
geführt, gleichsam wie von einem Computer gesteuert. Die kompositorischen
Charaktere der genannten Komponisten werden dabei gut getroffen,
wenn auch etwas glatt und oberflächlich.
Einen faszinierenden Eindruck hinterließ auch das Konzert
mit den Neuen Vocalsolisten Stuttgart. Fredrik Zellers „Lautverschiebung“
(Musik für sechs Stimmen), Francois Paris’ „Drei
Handspiele“ (für sechs Stimmen, siehe unser Bild auf
der vorigen Seite) und Jennifer Walshes „... he wants his
cowboys to sound like how he thinks cowboys should sound“
(für fünf Stimmen) erfuhren ihre Uraufführungen,
hinzu traten noch Jörg Widmanns „Signale“ (für
fünf Stimmen). Für Jörg Widmann war ein kleines Festival
im Festival reserviert, von ihm erklangen in anderen Konzerten noch
die „Fieberphantasie“ für Klavier, Streichquartett
und Klarinette (1999) sowie die Lichtstudie II mit dem Titel „Polyphone
Schatten“ für Viola, Klarinette und Orchestergruppen.
Die Neuen Vocalsolisten scheinen, was kaum zu glauben ist, von
Auftritt zu Auftritt noch an Qualität und Virtuosität
hinzu zu gewinnen. Sie streben mit den Werken, die speziell für
sie geschrieben werden, eine Verbindung von Vokalität und theatralisierender
Gestik an: eine spezielle Form von Musik-Theater, bei dem zum Singen
auch die Bewegung hinzutritt. Bei Zellers „Lautverschiebung“
ist das „Theatralische“ gleichsam einkomponiert in eine
äußerst komplexe Struktur, bei Paris’ „Handspielen“
wird das Gestische bereits im Titel annonciert, ebenso bei Jennifer
Walsh, deren Stück sich dann aber zu einer virtuos komponierten
Studie über Ensemble- Kollektiv und solistischer Vereinzelung
entwickelt. Was die Neuen Vocalsolisten dabei an Stimm-Equilibristik,
Stimm-Färbungen, feinsten Klangschattierungen und tonlichen
Pointierungen aufboten, konnte einem fast den Atem nehmen, so spannend
war alles. Wer heute ein Festival Neuer Musik veranstaltet, muss
mehr denn je auch darüber nachdenken, wie es weitergeht: weniger
künstlerisch, sondern vielmehr finanziell. Auch „Éclat“
gedeiht nur in der engen Verbindung zu einer Rundfunkanstalt, hier
der Südwestrundfunk. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten
wünschen möglichst bald eine Gebührenerhöhung,
die Politik verhält sich dazu zögerlich bis ablehnend,
weil sie nicht ganz ohne Grund Wählermissgunst fürchtet.
Auch darüber wurde in Stuttgart auf einer Podiumsdiskussion
gesprochen. Dazu sei hier nur kurz zu sagen: Man sollte sich bei
allen Sparzwängen nicht dazu hinreißen lassen, immer
mit Geißelnahme zu drohen, im Sinne von: Wenn wir nicht mehr
Geld bekommen, dann können wir, die Anstalten, auch nicht mehr
unserem Kulturauftrag wie bisher nachkommen. Rundfunk und Neue Musik
bilden eine unauflösliche Einheit, gewachsen vor allem in den
Jahrzehnten nach dem Krieg. Diese „Einheit“, ein Kulturgegenstand
besonderer Art, kann man nicht mit kleinlichen Argumenten zerstören.
Das wäre dann so, als würde man bei einem gotischen Dom
den zweiten Turm abmontieren, weil die Unterhaltung insgesamt teurer
geworden ist.