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nmz-archiv
nmz 2004/03 | Seite 52
53. Jahrgang | März
Dossier:
Bücher & Noten aktuell
Irgendwann nach dem Urknall hat es Click gemacht
„Soundcultures“ · Eine bemerkenswerte Bestandsaufnahme
der elektronischen und digitalen Musik
Soundcultures. Über elektronische und digitale Musik,
herausgegeben von Marcus S. Kleiner und Achim Szepanski,
edition suhrkamp, Frankfurt/Main 2003 (mit CD), € 12,-,
ISBN 3-518-12303-3
Der
Name ist Programm: das Frankfurter Avant-Techno-Label „Mille
Plateaux“ bezieht sich auf den gleichnamigen Theorie-Reader
der einflussreichen „Anti-Ödipus“-Autoren Gilles
Deleuze und Félix Guattari; dass es Label-Chef Achim Szepanski
nicht nur um experimentelle Kompositionen im unerhörten Trance-
und Ambient-Kosmos geht, sondern auch um Diskurse rund um mediale
Musiken und die sozialen Praktiken, die sie zur Voraussetzung und
Folge haben, das zeigt jetzt der sehr lesenswerte Suhrkamp-Sampler
„Soundcultures“.
Elektronische Sounds sind Musik jenseits der Notenschrift; das
hieß lange aber auch: unabhängig von Reflexion und historischem
Bewusstsein. An deren Stelle trat eine Augenblickhaftigkeit, deren
„theoretische“ Ausflüsse der redselige Stolz des
Handwerkers und wüste kosmologische Spekulation waren. Nicht
nur Stockhausen wuchs ein drittes Ohr, das ihn zum Sirianer machte.
„Soundcultures“ ist die vielleicht erste ernsthafte
Bestandsaufnahme neuer elektronischer Musik. Wer wissen möchte,
was ihre technischen Voraussetzungen und Bedingungen sind, findet
hier genügend Material. „Soundcultures“ liefert
aber auch einen kurzen, kundigen Abriss der Geschichte der Maschinen-Musik
von den ersten Anfängen bei den Futuristen um Marinetti, die
als wüst-vitalistische technophile „Übermenschen“
in missverstandener Nietzsche-Nachfolge die Geräusche der industriellen
Moderne zu urbanen Klang-Opern verdichten wollten, über die
„musique concrète“ eines Pierre Henry und ihre
Konsequenzen für ein „ent-subjektiviertes“ Komponieren
bei Messiaen und Stockhausen und das von ZEN und Zufall bestimmte
Spätwerk John Cages bis hin zu den vielen Spielarten synthetischer
Sounds in der Popmusik seit den späten 60er-Jahren.
Wen also interessiert, was Hammond-Orgel und Moog-Synthesizer
aus dem Rock’n’Roll machte, wie und warum teutonische
„Klang-Robotiker“ wie „Kraftwerk“ die anglo-amerikanische
Pop-Welt veränderten, wie aus R’n’B erst Soul,
dann Funk und schließlich Disco wurde und was es mit dem Mitte
der 80er-Jahre entstehenden und sich rasch in immer neue Sub-Genres
ausdifferenzierenden House- und Techno-Reich auf sich hat, der wird
hier fündig. Im Zentrum aber steht die Clicks & Cuts-Ästhetik
des Mille-Plateaux-Labels, deren Einfluss seit Jahren zuerst untergründig
im Milieu der Clubs und Pop-Theoretiker, zuletzt aber auch im akademischen
und Feuilleton-Kontext zunimmt. Frank Ilschner stellt sie in den
Zusammenhang avantgardistischer Kompositionsmodelle von Stockhausen,
Xenakis oder Cage, zeigt, wie sie direkt von Detroit Techno und
Acid House beeinflusst wurde und dass sie eine Klangerzeugung favorisierte,
die dezentriert und für Zufälle offen war und all die
Dramaturgien und Ideologien des Pop-Mainstream systematisch vermied.
Dass eine Clicks & Cuts-Ästhetik auf Reduktion und Klang-Minimalismus
setzt, ist unüberhörbar. Rolg Großmann nennt aber
noch eine zweite Gemeinsamkeit der Mille-Plateaux-Acts: nämlich
die „Verwendung medienreflexiver, direkt aus Speicherung,
Übertragung oder elektronischer Produktion der Medien abgeleiteter
Klänge“. Während der schöne Schein von der
Stummheit seiner Medien lebt, von der Idee des „reinen“,
durch Produktion und Übertragung nicht beeinträchtigten
Klangs, setzt die Clicks & Cuts-Ästhetik gerade auf den
Fehler im System, all die Störgeräusche, die zum Lauf
der Welt (und der Maschinen) gehören. Die große Theorie,
auf die sich Szepanski und Co. beziehen, also vor allem Deleuze/Guattari,
aber auch Lacan, Bataille oder McLuhan, „politisiert“
die Herstellung und Distribution von Klang: dem Imaginären
und Symbolischen, das üblicherweise für die „kulturelle“
Einbettung von Musik in den Alltag sorgt, aber eben auch das Hören
kodiert und in ein Korsett zwängt, wird misstraut; es kommt
zu Rettungsversuchen des „Realen“ – das, was man
in der Informationstheorie „Rauschen“ und in der Physik
„Chaos“ nennt –, was aufregend und fatal ist.
Denn das „Reale“ ist das, was sich der Zurichtung, dem
Nutzen und der Ratio entzieht, was in jedem System als Rest, Abfall,
Müll, „Trash“ bleibt; es ist (bei Nietzsche und
Bataille) der Überschuss, der das Leben ausmacht und der in
Festen, Rausch, Erotik, aber eben auch in Grausamkeit und Krieg
explosiv verausgabt wird; es ist aber auch (bei Lacan) der Ort der
Psychose, des Wahns, dem sich die Poeten und Musiker, wenn sie nur
„begeistert“ genug sind, gefährlich nähern.
Das Paradox der Maschinen-Musik besteht nun gerade darin, dass
sie einerseits (scheinbar) ein Effekt strengster binärer Kodierung
ist, dass sie nur Programm, Algorithmus, Serie zu sein scheint,
dass aber andererseits schon bei Stockhausen und Cage das Andere
der Ordnung, das Zufallsereignis, zur Essenz des Klangs wird: das,
was der Komponist erreichen will – und was er nur erreichen
kann, wenn er sich der Komposition verweigert. Die meisten Aufsätze
in „Soundcultures“ widmen sich der Materialität
der Musik, deren Momente Kodierung (Aufnahme) und Dekodierung (Abspielen)
sind, außerdem den Programmen, ihren Verfeinerungen und den
Überraschungen (Zufällen, Störungen), die sie immer
mitproduzieren. Rudolf Maresch aber weist in seinem Aufsatz „Waves,
Flows, Streams. Die Illusion vom reinen Sound“ darauf hin,
dass Musik niemals in der beziehungsweise durch die Klangmaschine
entsteht, sondern immer erst in der „Affektmaschine“
Mensch; auch in technoiden Sound-Universen bleibt das Ohr unentbehrlich;
und durch das Ohr kommt der „Schmutz“ in die Welt der
Töne, all das Andere der Musik, das sie erst wirksam macht.
Mareschs Konzept der Musik ist beides: radikal romantisch, also
auf Stimmung, „feeling“ aus, und radikal politisch im
Bewusstsein, dass kein Geräusch nur für sich steht/spricht,
sondern immer schon dienstbar ist den eigenen Wünschen genauso
wie den vermachteten Interessen der Anderen.
Wer Angst hat, sich im weiten Mille Plateaux-Universum und den
recht avancierten Diskurs-„Waves, -Flows- und Streams“
zu verlaufen, den mag die „Betriebsanleitung“ trösten,
die von den Autoren direkt der einst äußerst populären
„Rhizom“-Programmschrift Deleuzes/Guattaris entnommen
ist: „Das Buch ist kein Bild der Welt (...), auch nicht mehr
Einheit des Sinns (...). Findet die Stellen in einem Buch, mit denen
ihr etwas anfangen könnt. (...) In einem Buch gibt’s
nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann.“