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nmz-archiv
nmz 2004/03 | Seite 3
53. Jahrgang | März
Feature
Begegnung mit Jahrhundertzeuginnen
Die Pianistinnen Edith Kraus und Alice Herz Sommer · Von
Friederike Haufe und Volker Ahmels
Die Pianistin Edith Kraus startete im Januar von Israel aus eine
Europareise nach Schwerin, Hamburg, Berlin und London. Nach Aufgabe
ihrer Weigerung Deutschland zu betreten, besuchte sie nach 74 Jahren
erstmals wieder Berlin, die für sie auch heute noch symbolträchtige
Stadt, in der sie zwischen 1926 und 1930 bei Artur Schnabel in der
Meisterklasse studierte. Sie war dort Ehrengast auf Einladung des
Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, Schirmherr des Schweriner
Projekts „Verfemte Musik“, anlässlich der Gedenkstunde
des Bundestages zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
am 27. Januar. Die Reise führte schließlich nach London,
wo Edith ihre wichtigste Freundin Alice Herz Sommer endlich wieder
sah.
Alice Herz Sommer (li. )
und Edith Kraus Ende Januar 2004 in London. Foto: Ahmels
Ihr privates und musikalisches Schicksal verbindet diese großen
Persönlichkeiten. Beide verloren die Familie mit wenigen Ausnahmen
und mussten miterleben wie ihre Männer nach Auschwitz deportiert
wurden. Für die Geschichts- und Musikforschung sind sie von
großer Bedeutung, da sie persönlich mit den Komponisten
Viktor Ullmann, Pavel Haas, Gideon Klein, Hans Krasá und
Karel Reiner aus der Prager Zeit und in Theresienstadt sehr gut
bekannt waren. Viktor Ullmann schätzte beide Pianistinnen sehr.
Alice wurde die 4. Sonate gewidmet, Edith spielte die Uraufführung
der 6. Klaviersonate in Theresienstadt.
Beiden verhalf das Klavierspielen zum Überleben, trotz unwahrscheinlichen
Glücks, von den Transportlisten nach Auschwitz gestrichen zu
werden und damit der Deportation zu entkommen. Nach dem Krieg konnten
sie nach Israel auswandern und waren später Kolleginnen an
den Musikakademien in Tel Aviv und Jerusalem. Alice Sommer übersiedelte
1986 nach London zu ihrem Sohn Raphael. Der international gefeierte
Cellist und Dirigent Raphael Sommer war als Kind mit in Theresienstadt
inhaftiert. Er wurde 1995 im Auftrag der Jeunesses Musicales Deutschland
musikalischer Leiter der Kinderoper Brundibár, die in Berlin,
Warschau und Prag weltweit beachtet sehr erfolgreich aufgeführt
wurde. Alice Herz Sommer musste im November 2001 den Tod ihres Sohnes
ertragen, der auf einer Israeltournee plötzlich und völlig
unerwartet verstarb.
London
Da sitzen sie nun nebeneinander auf dem Sofa in der Wohnung von
Alice Herz-Sommer im schönen London- Hampstead und freuen sich
wie die Schneeköniginnen über ihr Wiedersehen: Die 90-jährige
Edith Kraus bei der 100-jährigen Alice. Im November hat Alice
ihren Geburtstag in großem Stil gefeiert, aber Edith hatte
schon lange vorher den Entschluss gefasst, die Freundin erst nach
dem Trubel und dann ganz in Ruhe zu besuchen, um beider Geburtstage
zu begehen. Am auffälligsten an den beiden Damen sind ihre
unterschiedlichen Temperamente, die bestimmt immer auch Motor dieser
außergewöhnlichen Freundschaft gewesen sind. Alice ist
von einer sprudelnden Lebhaftigkeit, die ihre ganze Umwelt mitreißt,
und Edith ist dazu der ruhende Gegenpol, schweigend, nachdenklich
sinnierend.
Prag
Edith lacht und sagt, dass Alice schon immer so gewesen sei, sich
überhaupt nicht verändert habe, denn auf die Frage, ob
sie sich an ihre erste Begegnung noch erinnern könnten, ruft
Alice: „Ja und ob! Ich hab von ihr gewusst. Sie kam zu mir,
der um zehn Jahre älteren Pianistin, um mir Martinú
vorzuspielen. Sie sollte im Konzert drei Tänze von ihm spielen
und hatte erfahren, dass ich diese bereits im Konzert gespielt hatte.“
Aus diesem besonderen Verständnis von Kollegialität konnte
sich eine Frauenfreundschaft fern von Neid und Missgunst entwickeln.
Alice findet es noch heute „entzückend“, dass Edith
damals ihren großen Hund zu ihr mitbrachte. „Wie hieß
er doch gleich?“ „Pucki!“ „Ach ja, Pucki!“
Dieser Hund wurde ihr 1939 von den Nazis weggenommen, da es Juden
verboten war, Haustiere zu halten. „Du warst schwanger -“
erinnert Edith sich. Noch zwei Jahre blieb das Leben in Prag normal.
Die beiden Frauen trafen sich regelmäßig privat, tauschten
sich aus und spielten nur zum Vergnügen vierhändig Klavier.
Klavierduos waren damals noch nicht so populär. Und sie besuchten
gegenseitig ihre zahlreichen Klavierabende in Prag, in denen sie
auch viel zeitgenössische Klavierliteratur interpretierten.
Die Elternhäuser von Edith und Alice waren deutschsprachig.
Natürlich beherrschte man auch Tschechisch. Einst hatte Alice
ihre Mutter gefragt, als sie vom Spielen mit anderen Kindern nach
Hause kam: „Mutter, was sind wir eigentlich? Deutsch, jüdisch
oder tschechisch?“ Alice fährt fort: „Und die Mutter
hat sehr intelligent gesagt: ‚Ich weiß es nicht‘.“
Diese Erinnerung macht die Situation deutlich, in der die Juden
in Prag lebten. Nach dem Einmarsch der Deutschen durften jüdische
Künstler nicht mehr öffentlich auftreten. Es entwickelte
sich ein reges Hauskonzertleben. Auch Alice und Edith veranstalteten
und spielten zahlreiche solcher Hauskonzerte, zu denen sie gegenseitig
nicht mehr kommen konnten, da sie zu weit voneinander entfernt wohnten
und es ihnen im Zuge der zunehmenden und unzähligen Repressalien
verboten war, nach 20 Uhr auf der Straße zu sein. Daher lud
man hauptsächlich Freunde aus der direkten Nachbarschaft ein.
Zu Alice kam manchmal der Komponist Viktor Ullmann. Sie kichert
und erzählt, dass er den Damen immer formvollendete Handküsse
gegeben habe. Edith, die ihn erst in Theresienstadt näher kennen
lernte, ist überrascht. „Ob er sich das wegen der veränderten
Lebensumstände abgewöhnt hat?“ „Der gelbe
Stern und der Abtransport meiner alten Mutter, das waren die Tiefpunkte
in meinem Leben. Ich musste sie lassen, mit einem Rucksack auf dem
Rücken und habe nie wieder irgendetwas von ihr gehört.“
Alice fiel nach der Deportation ihrer Mutter in eine tiefe Depression.
Aus der gelang es ihr sich selbst zu befreien, indem sie begann
täglich bis zu fünf Stunden alle Etüden von Chopin
einzustudieren.
Nach Theresienstadt
Und dann im Juli 1943 kam das Unvermeidliche. Drei Tage wurde
Familie Sommer in einer großen Halle festgehalten. „Drei
Tage als meine innere Vorbereitung auf das Kommende. Angesichts
tausender Matratzen und den Aborten unter freiem Himmel wusste ich,
was auf uns zukommen würde. Ab jetzt werden wir nicht mehr
wie Menschen behandelt.“ Edith Kraus wusste es bereits. Sie
war mit ihrem Mann Karl Steiner schon ein Jahr vorher nach Theresienstadt
deportiert worden. Sie hatte ihren ersten Klavierabend schon längst
hinter sich. Ihr Koffer mit den Noten war gleich nach der Ankunft
unauffindbar und so spielte sie praktisch unvorbereitet und auswendig
ein Programm mit Bach, Mozart, Chopin, Brahms und Smetana. „Eine
unerhörte Leistung“, findet ihre Freundin Alice, „und
erinnerst du dich an die Kollegin, die unbedingt das Italienische
Konzert von Bach spielen wollte? Aber es gab doch zuerst überhaupt
keine Noten im Lager. Und da hast du ihr gesagt, sie solle dir ein
paar Tage Zeit geben, du würdest es ihr aus dem Kopf aufschreiben.
Ja, und das hast du dann gemacht!“ Edith blickt verträumt
vor sich hin und sagt: „Ich glaube, das könnte ich heute
noch aufschreiben.“
Irgendwie alterslos sitzen die beiden Freundinnen beisammen. Edith
erinnert sich besonders gut an die Konzerte mit Werken von Beethoven
und an jene legendäre Abende mit den Etüden Chopins, die
Alice in Theresienstadt gab, währenddessen sich Alice besonders
an Ediths Bach-Programm erinnert, das aufgrund großer Nachfrage
sechzehn Mal wiederholt werden musste. Was war eigentlich das Besondere
am Konzertieren in Theresienstadt? Da sind die beiden sich sehr
einig. Das Publikum sei ein sehr besonderes gewesen, Konzertgänger
aus Amsterdam, Prag, Wien, Warschau, Berlin. Die seien in die Konzerte
gekommen und hätten gewusst, was gut ist. Sie waren alt, krank
und verhungert, man habe Ihnen dort geholfen. „Es war ihre
Nahrung, aber auch unsere Nahrung.“
Und Alice sinniert: „Der Mensch braucht nicht Essen, er braucht
nur einen Inhalt. Und das kann die Musik sein. Nicht die Malerei
und nicht der Goethe mit dem Shakespeare, denn die Musik macht uns
vergessen. Zeit existiert dann nicht mehr. Man hört, und speziell
in einer schwierigen Situation ist man verzaubert, in einer anderen,
in einer besseren, hoffnungsvolleren Welt.“ Überhaupt
seien Musiker privilegierte Menschen. „Auch wenn sie es schwer
im Leben haben. Sie haben die Musik immer in sich, bei Tag und bei
Nacht. Und niemand kann sie ihnen nehmen. Na ja, das wissen Sie
ja selbst.“ Die Tage, an denen man wusste, dass man abends
spielen würde, sei man eigentlich glücklich gewesen. Auf
die Frage, woher sie es erfuhren, erinnern sich beide an eine Frau
Deutsch aus Berlin, die im Auftrag der so genannten „Freizeitgestaltung“
die kulturellen Wochenpläne ausarbeitete und zur Kenntnisnahme
aushing. So erfuhr man, wann man wo zu spielen hatte. „Es
war sehr gut organisiert“, stellen die Künstlerinnen
fest. „Es sollte eigentlich auf der ganzen Welt so gut organisiert
sein.“ „Wir haben für jedes Konzert ein Stückchen
Margarine bekommen. Das habe ich dem Kind gegeben“ und plötzlich
wird klar, was es heißt, als Mutter mit Kind im Konzentrationslager
zu sein.
Die Freundinnen haben sich gegenseitig sehr als Stütze empfunden.
Gemeinsam mussten sie in der Glimmerspalterei arbeiten. Jede bekam
ein Stück durchsichtige Kohle, das mit einem kleinen Messerchen
in hauchdünne Blättchen gespalten werden musste. Vorher
und nachher wurde es gewogen, Gewichtsverlust wurde nicht toleriert.
„Für mich aktiven Menschen ein wirkliches Trauma“,
meint Alice. „Soviel habe ich mit keinem Menschen in meinem
ganzen Leben geredet wie damals mit der Edith.“ „Worüber?“,
wollen wir wissen.
Alice hat besonders Ediths ruhige und tröstende Art gebraucht,
währenddessen Edith die Gespräche über Musik besonders
geschätzt hat. Gemeinsam wurden sie am 8. Mai 1945 befreit.
Nach Israel
Ihre Männer hatten sie verloren, der kleine Raphael hatte
überlebt. Zurück in Prag hatte Edith das Glück, eine
neue Familie zu gründen. Sie heiratete 1947 ihren zweiten Mann
Arpad Bloedy und sie bekamen eine kleine Tochter. Voneinander wissend
wanderten beide befreundete Familien 1949 nach Israel aus. Alice
zog nach Jerusalem und Edith ging nach Tel Aviv. Beide wurden Gründungsmitglied
der Akademien in ihren jeweiligen Wohnorten. Vom ersten Moment an
kam Alice häufig übers Wochenende mit ihrem Kind zur Freundin
nach Tel-Aviv. Beide erinnern sich noch gut an die anfänglich
fast unüberwindbar scheinende Sprachbarriere und an die klimatische
Umstellung.
37 Jahre später entschließt Alice sich zu ihrem Sohn
und seiner Familie nach London überzusiedeln. Die Freundinnen
vermissen sich die ersten Jahre sehr. Sie telefonieren häufig,
schreiben sich viel, und immer wenn die Sehnsucht zu groß
wird, reist Edith nach London, Alice reist schon länger nicht
mehr. Und so auch jetzt: Es gibt soviel zu erzählen, wenn sich
zwei Menschen in 67 Jahren so intensiv erleben, wie diese beiden.