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nmz-archiv
nmz 2004/03 | Seite 23
53. Jahrgang | März
Forum Musikpädagogik
Musik als Musik oder als Genussmittel
Musikunterricht zwischen Gegenstand und Funktion · Von
Christoph Richter
Zu Beginn sei auf ein seemännisches Problem der Musikpädagogik
aufmerksam gemacht. Auf die berüchtigte Meeresenge zwischen
Messina auf Sizilien und dem italienischen Festland: Soll Musikunterricht
ein sinnvolles und sinnstiftendes Unternehmen sein, so muss er versuchen,
heil zwischen der Skylla und der Charybdis hindurch zu segeln, musikpädagogisch
formuliert: zwischen dem Ungeheuer des für viele Schüler
erbarmungslos fordernden Sachanspruchs der Musik und der Verführung
einer unverbindlichen Spaß- und Erlebnispädagogik.
Der Musikunterricht und die ihn absichernden konzeptionellen Überlegungen
haben die Neigung, in zwei Richtungen aus- einander zu streben.
Die eine Tendenz fordert die Wahrung des Sachanspruchs als Grundlage
und als Maß musikalischer Bildung. So verstanden zielt Musikunterricht
vornehmlich auf Wissen von Sachverhalten und Fakten und auf ihre
Anwendung in theoretischen und praktischen Zusammenhängen.
Die andere Tendenz schlägt sich auf die Seite des unbekümmerten
Machens, des Spaßes und des Lustgewinns als Ziel und Treiben
des Musikunterrichts.
Damit diese gegensätzlichen Tendenzen sich nicht zu weit voneinander
entfernen, ist es nützlich, sie sich nicht so sehr als in Opposition
stehende Extreme vorzustellen, sondern lieber als veränderliche
Orte auf einer Skala, auf welcher Musikunterricht angesiedelt werden
kann.
Jede Tendenz des Musikunterrichts und jede Konzeption könnte
wie ein beweglicher Schieber an einen bestimmten Punkt auf dieser
Skala geschoben werden, mehr oder weniger weit voneinander entfernt.
So betrachtet stünde Musikunterricht in einer lebendigen und
fruchtbaren Spannung zwischen den gegensätzlichen Tendenzen.
Um solche Rasterpunkte zu bestimmen, seien zunächst beide Tendenzen
erläutert. Sodann möchte ich zu zeigen versuchen, dass
und wie sie aufeinander angewiesen sind, zum Nutzen ihres gemeinsamen
Auftrags. Sie sind, das ist meine Überzeugung, wie siamesische
Zwillinge miteinander verknüpft. Wer nämlich Musik wirklich
mit Freude genießen und erleben will, wird sie auch in ihren
Sachverhalten ernstnehmen.
Musikunterricht in der
Spaßgesellschaft
Musikunterricht soll Spaß machen. Unter dieser Flagge treibt
der musikpädagogische Vergnügungsdampfer zu den Untiefen
und verführerisch saugenden Strudeln der Charybdis. Auf dem
Kreuzfahrtprogramm stehen unverbindlicher oder gar blinder Aktionismus,
die beliebige Aneignung jedweder Musik und Verzicht auf Genauigkeit
der Betrachtung und des Ergründens (gewöhnlich musikpädagogisch
als handlungsorientiert sanktioniert).
Die Landnahme des Musikunterrichts durch die Spaßgesellschaft
wird von unterschiedlichen Bedingungen und Tendenzen genährt,
von der Ratlosigkeit unzureichend ausgebildeter und unsicherer Lehrer
gegenüber unbändigen oder gelangweilten Schülern,
vom partiellen Versagen der Musikpädagogik im Grundschulbereich
(was eine aufbauende und zugleich lebendige Musikalisierung betrifft),
von den Verführungen der zerstreuenden und neurotisierenden
Medienspäße, vom Mangel an hingebender Intensität,
an verbindlicher Nuancierung und an persönlichem Engagement
im Umgang mit den Dingen und mit Situationen. Hinzu kommen zunehmend
familienlose Bildungs- und Lebensverhältnisse, welche einen
frühzeitigen und deshalb wirksamen Umgang mit Musik erschweren.
Diese Praxis oder dieses Elend reduziert den Musikunterricht auf
Ausgleichsfunktionen und treibt ihn in die Fänge wirtschaftlicher
und technologiegläubiger Bildungsvorstellungen. Sie tendieren
mit Macht und Einfluss zum Fit-Machen für Brauchbarkeit und
Mithaltenkönnen im globalen Wettbewerb, für den digitalen
Kapitalismus (Peter Glotz), zu beflissenem Funktionieren in den
technischen Wissenschaften, in deren Forschungen und in Wirtschaftsunternehmen.
Jene, die dies für Menschenbildung halten, finden offene Politikerohren
und sind sogar für fragwürdige Versprechungen von Transfereffekten
anfällig, welche eine Steigerung von Intelligenz und Sozialverhalten
durch Musizieren verheißen. In solchen Bildungskonzepten werden
die Fahrrinne und die Manövriermöglichkeiten für
die Künste eng und enger.
Wenn es schlecht läuft, wird in der neumusischen Spaß-
und Spielecke elektronisch oder anders geklimpert, laienhaft musicalmäßig
agiert, mit Computern Musik gezimmert und im Internet inhaltsresistent
und reflexionsfrei herumgesucht – in einer kurzatmigen Didaktik
mit Wegwerfmentalität. Wenn es besser läuft, werden ansehnliche
Prozesse und Produkte hervorgebracht. Das freilich setzt die Beschäftigung
mit musikalischen Details und Sachverhalten voraus.
Mit der Musik in einen
Dialog treten
In beiden Fällen aber fragt Musikpädagogik kaum nach
Musik als jenem verläßlichen Partner, zu welchem Menschen
in einen Dialog, oder um mit Martin Buber zu reden: „in ein
verbindliches dialogisches Verhältnis treten können“.
Zum Begriff des Partners gehört, ihn als Gegenüber kennen-
und verstehen zu lernen, ihn in seiner Unverwechselbarkeit zu akzeptieren;
danach zu fragen, woher er kommt, was er mitbringt (zum Beispiel
aus früheren Zeiten oder fernen Völkern) wie er denkt
und sich ausdrückt, aber auch, welche Widerstände er der
Aneignung entgegensetzt, mit welcher Fremdheit und Widerspenstigkeit
des Partners es sich auseinanderzusetzen gilt, damit er Menschen
stärker und reicher zu machen vermag. Zum Partner wird ein
Gegenüber, wenn man sich auf ihn fragend einlässt, und
nicht etwa schon, wenn man ihn – gleichsam mit egoistischem
Zugriff – benutzt oder ihn sich aneignet, ohne jene Rücksicht,
die nach dem anderen fragt.
Wo das nicht (mehr) pädagogisch und menschlich Geltung hat,
also nicht gelernt, ständig geübt und vor allem zur selbstverständlichen
Haltung ausgebaut wird, da werden auch das eigene Tun und Leben
unverbindlich – spaßig oder gewaltsam bis skrupellos.
Diese Kritik gilt auch für jene Art von lebensweltorientiertem
Unterricht, der die lebensweltlichen Begriffe und Bezüge nicht
aus der Struktur und Deutung der herangezogenen Musik erschließt,
sondern Musik lediglich als illustrierende Grundierung benutzt.
Ich habe deshalb an anderem Ort als Bedingung für einen sinnvollen
lebensweltorientierten Musikunterricht die folgende Doppelforderung
erhoben, den Begriff des Gesprächs als Beispiel wählend:
Aus einer Musik soll erschlossen werden, was Gespräch ist oder
sein kann; und aus dem Begriff ,Gespräch‘ soll erarbeitet
werden, was Musik ist und wie sie sein kann.
Literatur
Christoph Richter: „Lebensweltliche Orientie-rung des Musikunterrichts
–nur eine Utopie?“ In: Musik und Bildung, Heft 6/1993,
S. 24–29