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nmz-archiv
nmz 2004/03 | Seite 17
53. Jahrgang | März
Rezensionen
Parade der Dirigentenlegenden
Ein Orchesterjubiläum und Taktstock-Virtuosen auf CD
Zu seinem hundertjährigen Bestehen präsentiert sich
das Königlich-Philharmonische Orchester Stockholm in Zusammenarbeit
mit der Londoner Agentur IMG (die auch für EMI die Great Conductors-
und die historische DVD-Serie produziert) auf einer sehr schmucken
8-CD-Box unter der Leitung der versammelten dirigentischen Prominenz
von 1934 bis 1978. Die Werkauswahl dürfte weitgehend vom Orchester
selbst vorgenommen worden sein und könnte origineller sein.
Die Einführungstexte sind eher routiniert als inspiriert. Die
tonliche Aufbereitung ist exzellent.
Zu den Highlights gehören natürlich Wilhelm Furtwänglers
himmelstürmend verinnerlichte, hingebungsvoll riskante Beethoven-Darbietungen
(8. Symphonie und 3. Leonore-Ouverture), aber auch Richard Strauss’
vier letzte Lieder mit Sena Jurinac (mit schwereloser Intensität
des Ausdrucks), drei Sätze aus Respighis erster „Antiche
Danze“-Suite unter Monteux (unprätentiöse Pracht
und liebliche Unschuld) oder Hugo Alfvéns zauberisch-verwunschene
„Schärenlegende“ op. 20 unter Herbert Blomstedt,
der hier einmal ganz von seiner klangsinnlichen, lyrischen Seite
zu erleben ist.
Musikantisch schwungvolle Darbietungen von Brahms’ Haydn-Variationen
unter Constantin Silvestri oder Dvoráks 6. Symphonie unter
Dorati, exegetische Energetik unter Klemperer (Brahms’ 4.)
oder Fricsay (Tschaikowskys 5.), naive Unmittelbarkeit der Empfindung
bei Kubelík (Faurés Requiem), gestalterische Eleganz
unter Schmidt-Isserstedt (Wagners Siegfried-Idyll), Kempe (Bruckners
7.) oder Roshdestvensky (Aubers Gustav III.-Ouverture) seien hervorgehoben,
ebenso die auf unterschiedlichste Weise fesselnden Dirigate von
Stokowski (in seiner fulminanten Fassung der – nicht von Bachs
Hand stammenden! – Toccata und Fuge d-moll), Bruno Walter
(Mozarts späte Es-Dur-Symphonie) und Toscanini (Tristan-Vorspiel
und Liebestod mit hohem Geräuschanteil). Berwalds „Sinfonie
singulière“ unter Markevitch ist sehr gediegen, kann
jedoch beispielsweise den fantastischen Celibidache-Aufführungen
mit dem konkurrierenden Schwedischen RSO natürlich nicht das
Wasser reichen. Das Berg-Violinkonzert mit dem Solisten Louis Krasner
bleibt weiter unter Anton Weberns Leitung Referenz (Testament SBT
1004), hier unter Fritz Busch schlüpft es in fast fünf
Minuten weniger vorüber. Eine grobe Enttäuschung ist Schönbergs
Erste Kammersymphonie unter Horenstein. In Prokofieffs Fünfter
ist Paul Kletzki wieder einmal der beherzte Animateur mit Mängeln
in Aufbau und Kontrolle. Kertész Dvorák ist nur pauschal
schwungvoll, Krips’ Oberon-Ouverture sehr gut, aber bieder,
Tor Manns „Sibelius“ und Sixten Ehrlings „Don
Juan“ von Strauss betont kantig, Giulinis „Wilhelm-Tell-Ouverture“
(1960) knackig virtuos. Der absolute Trumpf unter den Erstveröffentlichungen
ist für mich Victor de Sabatas brillant vielgestaltig funkelnder,
grandios inszenierter „Chant du rossignol“ von Strawinsky.
Für den Sammler wiederholt sich in diesem Paket manches, anderes
ist auch für ihn unverzichtbar.
Nach und nach erlangen die Tondokumente des 1956 36-jährig
bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen italienischen Dirigenten
Guido Cantelli – jenes Mannes, in den der greise Arturo Toscanini
seine ganze Hoffnung gesetzt hatte – „public domain“-Status
und nun sind innerhalb kürzester Zeit bei zwei Firmen 21 CDs
in drei Boxen mit Rundfunkkonzerten von Toscaninis New Yorker NBC
Orchestra unter Cantelli erschienen. Insgesamt ist zu resümieren,
dass Cantelli in der relativen Geradlinigkeit, hohen Präzision
und klanglichen Trennschärfe deutlich von Toscanini beeinflusst,
jedoch eine stärkere Neigung zu lyrischer Innigkeit und Zartheit
versprühte – was wohl hätte daraus wachsen können?
Ich möchte weniges Typische herausgreifen: schneidig direkter
Bartók, Hindemith und Dallapiccola, klar pulsierende, vorwärts
drängende Klassiker, wuchtig-herbe Romantiker, pathetisches
Barock. Die bekenntnishaft klassizistische Musik „romantischen“
Ursprungs seines Lehrers Giorgio Federico Ghedini (in diesem Fall
das wunderschöne, kraftvoll konturierte Pezzo Concertante für
zwei Geigen, Bratsche und Orchester) und Ghedinis stilbewusst farbige
Frescobaldi-Orchestrationen erfreuten sich der besonders herzlichen
Zuneigung des jungen Maestro und seien dem heutigen Hörer in
ihrem herrlich zeitlosen „Anachronismus“ uneingeschränkt
ans Herz gelegt.
In der Serie Original Masters präsentiert Universal Classics
viele Deutsche Grammophon-, Decca- und Westminster-Plattenaufnahmen,
die bislang nicht den Weg auf die CD gefunden hatten. Eine sehr
positive Überraschung gerade auch für diejenigen, die
sein eckiges, expressionistisch aufgeladenes, anti-musikantisches
Naturell nicht mögen, bieten die Haydn-Aufnahmen Hermann Scherchens
aus den fünfziger Jahren. Dieser Mann bleibt zweifellos ein
leuchtendes Beispiel, was etwa seine Winterthurer Konzertdramaturgie
betrifft oder sein fanatisches Eintreten für die neuere, auch
unbekannt gebliebene Musik. Sein Mangel an Eleganz, Fluss und Einfühlung
hingegen war eklatant. Doch hier, bei Haydn, ist vieles erstaunlich
filigran, weitgesponnen, großzügig im guten Sinne –
und vieles natürlich auch nicht, aber doch in seinem Individualismus
weit aufragend gegenüber der Nivellierung der so genannten
„historischen Aufführungspraxis“ von heute. Paul
Hindemith als Dirigent war kein Vorteil für irgendwelche Musik,
auch nicht für seine eigene. Man sieht, wie höchste musikalische
Qualifikation, hehres Ethos und Liebe zur Sache nicht hinreichen,
wenn die Vermittlung trocken und ohne Fähigkeit zur Transzendenz
des Materials bleibt. Eine tragische Kraftvergeudung, die seine
Musik vierschrötig und bloß kunsthandwerklich auftreten
lässt, was ihr unter berufenen Händen nicht anhaftet.
Als Scheitern sehr aufschlussreich und in der „Authentizität“
ein desaströses Vorbild. Igor Markevitch, Verfechter einer
objektivierenden, der vermeintlichen „Romantik“ entgegengesetzten
Musizierhaltung, ist überwiegend mit Standardrepertoire vertreten,
stets auf dezidiertem Niveau mit „strukturellem Überblick“
– wozu es nicht kommt, ist das Loslassen. Als Rarität
ist Charles Gounods 2. Symphonie zu hören, in einer viel höheren
als der üblichen Raritäten-Liga. Fesselnder ist die ebenso
umfangreiche Ferenc-Fricsay-Kollektion, welche auch sein credohaftes
Selbstporträt „Erzähltes Leben“, eine sehr
bewegende „Pathétique“ von Tschaikowsky und die
sehr deutungsintensive, hochkarätige späte Aufnahme von
Haydns Jahreszeiten (mit Maria Stader, Ernst Haefliger und Josef
Greindl) enthält. Besondere Highlights: die teils seltenen
Werke für Klavier und Orchester mit Margrit Weber, Respighis
Zauberladen nach Rossini, Hindemiths Symphonische Tänze (man
vergleiche mit des Komponisten eigener Version!), Frank Martins
gestaltenreiche Petite Symphonie Concertante und – dies vielleicht
der Höhepunkt in der Diskographie dieses Komponisten überhaupt
– Karl Amadeus Hartmanns 6. Symphonie. Ein imponierender Beherrscher
des Orchesters, rundum eine wahrlich lohnende Sache. Für mich
freilich wird das alles weit übertroffen von Leopold Stokowski.
Was er anfasste, wurde zum magischen, unverwechselbar mannigfaltig
strahlenden Gegenstand, seien es Elgars Enigma-Variationen, Tschaikowskys
5. oder Francks d-moll-Symphonie, Scriabins „Poème
de l’extase“, Berlioz, Ravel, Debussy, Messiaens „L’Ascension“
oder seine fantastischen Orchester-Transkriptionen (eben hat Oliver
Knussen für DG seine Mussorgsky-Bearbeitungen neu eingespielt).
Suggestiver kann der Hörer nicht gepackt werden. Dies setzt
lediglich voraus, dass er keine Scheu hat: All you need is –
devotion.
Christoph Schlüren
Diskografie
Royal Stockholm Philharmonic Orchestra – Great Recordings
from the Archives; mit den Dirigenten Stokowski, Fr. Busch,
Toscanini, Br. Walter, Furtwängler, de Sabata, Klemperer,
Schmidt-Isserstedt, T. Mann, Giulini, Fricsay, Horenstein, Krips,
Silvestri, Monteux, Kubelík, Kletzki, Blomstedt, Kertesz,
Ehrling, Kempe, Roshdestvensky, Dorati, Markevitch
RSPO 1007/8 www.konserthuset.se
Guido Cantelli dirigiert das NBC Symphony Orchestra: Broadcasts
1949/50; Händel, Bach, Tschaikowsky, Haydn, Strawinsky,
Wagner, Mozart, Hindemith, Frescobaldi/Ghedini, Beethoven (SBT4
1306); Rossini, Mozart, W. Schuman, Milhaud, Dallapiccola, Verdi,
Haydn, Vivaldi, Busoni, Beethoven, Corelli, Monteverdi, Geminiani/Marinuzzi
(SBT4 1317)
Zwei 4-CD-Boxen von Testament/
Note 1
The Art of Guido Cantelli: New York (NBC) Concerts and Broadcasts
1949–52; Rossini, Bartók, Schubert, Mozart, Mendelssohn,
Ravel, Brahms, Beethoven, Haydn, Monteverdi, Strawinsky, Roussel,
Vivaldi, Tschaikowsky, Ghedini, Mussorgsky/Ravel, Frescobaldi/Ghedini,
Shulman, Dvorák (Klavierkonzert mit R. Firkusny), Debussy,
Schumann
Music & Arts 1056 (10 CDs/Note 1)
Hermann Scherchen dirigiert Joseph Haydn: Symphonien Nr.
44, 45, 49, 55, 80, 88, 92-104; Wiener Staatsopern-Orch., Wiener
Symphoniker
DG 471 256-2 (6 CDs/Universal)
Hindemith dirigiert Hindemith: Konzert für Orch.,
Konzertmusik op. 49 (Monique Haas, Klavier), Sinfonie „Mathis
der Maler“, Symphon. Tänze, Die vier Temperamente (Hans
Otte, Klavier), Sinfonische Metamorphosen, „Amor und Psyche“-Ouvert.,
Sinfonie „Die Harmonie der Welt“, Interview mit Hindemith;
Berliner Philharmoniker
Deutsche Grammophon DG 474 770-2 (3 CDs/Universal)
Igor Markevitch dirigiert: Mozart, Gluck, Haydn, Cimarosa,
Schubert, Beethoven, Brahms, Kodály, Wagner, Gounod, Bizet,
Debussy, Tschaikowsky, Interview mit IM; Berliner Philh. etc.
Deutsche Grammophon DG 474 400-2 (9 CDs/Universal)
Ferenc Fricsay dirigiert: Beethoven, Mendelssohn, Prokofieff,
Mahler, Tschaikowsky, Rossini/Respighi, Rimsky-Korsakov, Joh.
& Jos. Strauß, von Einem, Hindemith, K.A. Hartmann,
F. Martin, Haydn (Jahreszeiten); konzertante Werke mit Margrit
Weber am Klavier von de Falla, Françaix, Honegger, Franck,
Rachmaninov und Fricsay, „Erzähltes Leben“; RSO
Berlin, RIAS-SO, Berliner Philh.
Deutsche Grammophon DG 474 383-2 (9 CDs/Universal)
Leopold Stokowski dirigiert: Tschaikowsky, Scriabin, Franck,
Elgar, Berlioz, Ravel, Strawinsky, Debussy, Messiaen, Stokowski-Arrangements
von Werken von Bach, Byrd, Clarke, Schubert, Chopin, Tschaikowsky,
Duparc, Rachmaninov, Debussy; Tschech. Philharmonie, London Symph.
Orch. etc.
Decca 475 145-2 (5 CDs/Universal)