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nmz-archiv
nmz 2004/03 | Seite 30
53. Jahrgang | März
ver.die
Fachgruppe Musik
Ein Musikgenre zieht um die Welt
Vom Schtetl übers große Meer in die Clubs –
Klezmer goes Pop, Teil I · Von Udo Feist
Ob ein Trend daraus wird, bleibt abzuwarten. Ein neuer Stil ist
es auf jeden Fall: Die Band „Oi Va Voi“ (jiddisch: Oh,
mein Gott!) aus London zieht traditionellen Klezmer, Musik sephardischer
und jemenitischer Juden, orientalische Melodien und Zigeunerfolk
vom Balkan auf eine Elektromixtur aus Dub, Drum’n’Bass,
House, Ragga und Jazz. Die Resonanz ist gewaltig. Ihr taufrisches
Debut-Album „Laughter through Tears“ begeistert Englands
Musikpresse und das Publikum in den Clubs.
Kult-DJs wie Matthew Herbert oder Hefner ließen sich vom
Amalgam aus bittersüßer Melancholie, hypnotischem Gesang,
leicht fließenden Rhythmen und exotischem Touch zwischen ostjüdischer
Volksmusiktradition und Portishead zu Remixen für die hippen
„Buddha Bar Compilations“ inspirieren. Und obwohl die
CD mit eigenen Songs und Traditionals noch nicht erschienen war,
nominierte BBC-Radio die seit 2000 zusammenspielende Band für
gleich zwei Kategorien der „World Music Awards 2003“.
Ihr Live-Ruf war ihr vorausgeeilt.
Die eigene Stimme finden
Lemez Lovas (trumpet, voc, piano, keys), Leo Bryant (bass), Sophie
Solomon (violin), Steve Levi (clarinet, voc), Josh Breslaw (dr,
perc) und Nik Ammar (git) bleiben aber auf dem Teppich und mißtrauen
Vergleichen mit dem British Asian Underground, der vor zehn Jahren
traditionelle indische Musik mit Dancebeats verband und den Sprung
in die Charts schaffte (Cornershop, Talvin Singh, Nitin Sawhney).
Sie sehen in ihrer Musik denn auch nicht den „Klezmer Groove
Sound des 21. Jahrhunderts“, obwohl es das kulturelle Erbe
der Bandmitglieder widerspiegelt. Die meisten haben Aschkenasim
als Vorfahren, wie man Juden aus Osteuropa im Unterschied zu den
Sephardim Westeuropas nennt. Für „Oi Va Voi“ zunächst
ferne Vergangenheit. „Zwei von uns sagten von vornherein,
dass sie Juden sind, für die andern wurde das erst in der Band
wichtig,“ erzählt Lovas. „Einem war nicht mal richtig
klar, dass er überhaupt Jude ist. Dann fiel ihm aber auf, dass
sein Onkel gerade die Ausbildung zum Rabbi macht.“
Aus biographischer Distanz und vitaler Aneignung entstand intime
Nähe, die Klezmer, der einst von Berufsmusikern auf Feiern
der Juden in Osteuropa gespielten Volksmusik, zu neuer Inkarnation
verhilft. „Beim Judentum geht es ja nicht nur um Religion“,
erläutert Lovas. „Gerade weil es ein Glauben mit starker
Kultur und tiefen Traditionen ist, kannst du dich kulturell als
Jude fühlen, ohne daß du dich unbedingt zur Synagoge
hältst.“
Den historischen Klezmorim (Klezmer ist aus den hebräischen
Worten für Werkzeug und Gesang gebildet und bezeichnete zunächst
das Instrument, später den Musiker) fühlen sie sich aber
sehr nah. Geigerin Sophie Solomon: „Musiker verarbeiten immer
vielfältigste Einflüsse. Sieh dir die Klezmorim an: wandernde
Musikanten, die mit Zigeunern spielten oder die Musik rumänischer
Schafhirten aufsaugten. Sie hörten alle Arten von Musik und
das merkt man, es spiegelt sich in der Musik. So ist das auch bei
uns und unserer Musik. Sie zeigt, wer wir sind. Bei Musik geht es
doch immer nur darum, die eigene Stimme zu finden.“
„Oi Va Voi“ hat sie mit ihrer Verbindung von DJ Culture
und jüdischem Erbe jedenfalls gefunden und nach Auftritten
auf großen europäischen Festivals und in der New Yorker
Knitting Factory bereits internationales Ansehen errungen. Da die
Musik recht eingängig ist, könnte die Band es über
die Sparte Weltmusik hinaus schaffen, doch wissen die Musiker genau,
wie eng Markenzeichen und Schublade nebeneinander liegen. Ein Kalkül
machen sie daraus aber nicht.
Der Stil ist spannend, gerade auch für den sound- und novitätenhungrigen
Popmarkt, hat aber zugleich ein seelenvolles Hinterland. Vorwürfe
von Puristen, dass sie Klezmer durch das Umbetten in ein aktuelles
Beatbett entleerten, treffen dabei ins Leere, da sich ihre Musik
geradezu authentisch auf der alten Klezmer-Linie bewegt. Der war
nämlich immer schon genuine Unterhaltungsmusik, die sich in
vitaler Wechselwirkung mit den unterschiedlichsten Musikformen ihrer
Umgebung weiterentwickelte.
Freude und Trauer in einem
Ein expressiver Musikkontinent zwischen gefühliger Nachdenklichkeit,
dunkler Schwermut und rasender Ausgelassenheit, über den Dimitrij
Schostakowitsch schrieb: „Klezmer ist Freude und Trauer in
einem und berührt mich auf eine Art und Weise, wie es keine
andere Musik vermag.“ Im gesellschaftlichen und religiösen
jüdischen Leben in Mittel- und Osteuropa, das von Nazi-Deutschland
vernichtet wurde, spielte er jahrhundertelang eine zentrale Rolle.
Die „Kapelyes“ spielten bei Feiern und einer Vielzahl
religiöser Feste auf.
„Eine Beerdigung ohne Weinen ist wie eine Hochzeit ohne
Klezmer“, hieß es unter den Aschkenasim, die verstreut
in Polen, Rumänien, Russland und der Ukraine lebten –
von Pogromen und staatlicher Gewalt drangsaliert. Russische Gesetze
schrieben ihnen einen Siedlungskorridor vom Baltikum bis zum Schwarzen
Meer vor, der etliche Städte ausschloss. 1897 lebten in dem
Bereich über fünf Millionen Juden. Urbane Zentren wie
Minsk, Warschau, Odessa oder Bukarest gab es zwar, doch pflegte
man das Brauchtum besonders in den Schtetl genannten ländlichen
Kleinstadtgemeinden.
Gebräuche und jiddische Sprache waren ein einendes Band.
Mitten drin bewegte sich die Musikerkaste wandernder Klezmorim,
die als Träger, Akteure und Gestalter der bis ins Mittelalter
zurückreichenden Traditionen dienten. Die Kapelyes waren traditionell
Saitenensembles mit der Geige als dem wichigsten Instrument (vgl.
den jiddischen Klezmerfilm „Yidl mitn Fidl“, 1936),
Hackbrett (Tsimbl) und einem Kontrabass. Hinzu kamen Bratsche, Cello
und Flöten. Im 19. Jahrhundert wurde die Klarinette Leitinstrument.
Sie war durch Militärkapellen populär geworden und passte
mit ihrer ausdrucksvollen Klangfarbe ähnlich gut zu Klezmer
wie die Geige. Als Juden dann in europäischen Armeen dienen
durften, zogen auch Trompete, Posaune und Tuba in die Gruppen ein.
So sehr man ihre Musik schätzte, mochte jedoch niemand einen
Klezmer gern zum Schwiegersohn, da ihre Existenz so unstet war.
Sie spielten bei jeder Gelegenheit: auf Volksfesten und Märkten,
in Adelshäusern und bei christlichen Hochzeiten. Ihr Repertoire
reichte von Volks- und Tanzmusik bis zu Walzern, Quadrillen und
leichten klassischen Stücken. Den Stil prägte aber die
jüdische religiöse Gemeinschaft.
Im „Jammern“ und Beugen der Töne klangen gefühlsbetonte
Gesänge der Synagoge nach, ebenso bei Verzierungen und Polyphonie.
Übermäßige Sekunde und Abweichungen von westlichen
Tonleitern sorgten für orientalische Färbung. Hinzu kamen
Elemente semitischen Ursprungs, mit mancher Ähnlichkeit zur
frühen Rembátika-Musik der Griechen in Kleinasien. Neben
das vielfältige Erbe trat die Anverwandlung regionaler Musiken,
weshalb schon im 18. Jahrhundert Unterschiede im Spiel der Klezmorim
aus Litauen, Polen oder Ungarn deutlich zu hören waren. Sie
übernahmen Volksmusiken und Tänze wie den bessarabischen
Bulgar und arrangierten sie neu. Bulgar und der Freylekh, beides
schnelle Kreistänze mit synkopiertem Rhythmus, waren sehr beliebt,
aber auch rumänische Tanzstile wie der Hora, der Sîrba
und der langsame rhapsodische Doina. Da Klezmorim meist keine formale
musikalische Ausbildung hatten, lernten sie das Repertoire in den
Kapelyes. Oft gaben Väter die Tradition an die Söhne weiter,
so dass viele Ensembles aus Musikerdynastien hervorgingen.
Musikalische Leidenschaft, die aschkenasische Identität und
ökonomische Zwänge des Berufsmusikerdaseins prägten
den Typos „Klezmer“. „Wir alle sind geborene Sänger,
das ist eine natürliche Gegebenheit. Um diese natürliche
Kraft auch auszudrücken, brauchen wir aber ein Instrument,“
erläutert Giora Feidman das Klezmorim-Selbstverständnis,
„wir sind die Instrumente des Liedes. – Mein Vater versuchte
immer, mir zu erklären, was wir unter einem Musiker in der
Gesellschaft verstehen: der Gesellschaft zu dienen. Du bist ein
Mittel für die Klänge, die Musik, die Liebe.“
What can you mach? S’is Amerika
Sicher eine mit dem Zuckerguss der Nostalgie und Verklärung
überpuderte Sicht des „charismatischen Wunderklarinettisten“
Feidman (er gibt ab Ende April mal wieder acht Konzerte in Deutschland),
aber nachvollziehbar angesichts der Geschichte, die zwischen dem
Untergang der soziokulturellen Heimat und der neuen Aktualität
dieser Musik liegt, die im 20. Jahrhundert in mehreren Renaissancebewegungen
um die Welt ging. Dreh- und Angelpunkt waren die USA, wohin von
1880 bis 1924 vor Pogromen und wirtschaftlicher Not rund drei Millionen
osteuropäische Juden flohen.
Die „heymishe“ Klänge brachten sie mit. Allerdings
sank das Ansehen der schon in der Alten Welt als „shnorers“
geltenden Klezmorim weiter. Der 1912 in New York geborene Klarinettist
Max Epstein bemerkt dazu: „Wenn du mich vor 35 Jahren einen
Klezmer genannt hättest, hätte ich dir eine runtergehauen.“
(Ihn und seine Brüder portraitierte Stefan Schwietert 1996
in dem wunderbaren Film „A Tickle in the Heart“.) Trotz
großer Schwierigkeiten (als Dave Tarras 1921 in New York ankam,
räucherte man seine Tasche aus und zerbrach die Klarinette)
gab es aber auch für Klezmorim in der Neuen Welt eine Zukunft.Sie
fanden Arbeit bei Hochzeiten, Veranstaltungen der „landsmanschaftn“
(Wohltätigkeitsvereine jüdischer Einwanderer), Festen
anderer Ethnien und in der boomenden Unterhaltungsindustrie. Plattenfirmen
wie Columbia und Victor bedienten den jüdischen Heimwehmarkt
mit Hunderten von Aufnahmen. Einige Ensembles (etwa die von Abe
Schwartz und Harry Kandel) waren sehr populär, Solisten wie
Naftule Brandwein und Dave Tarras ebenfalls. Zudem gab es Auftrittsmöglichkeiten
in Stummfilmkinos, in Broadway-, Vaudeville- oder jiddischen Theatern.
In einem sang Aaron Lebedeff zur Musik vom Alexander Olshanetsky
Orchestra 1929 den Song „What can you mach? S’is Amerika“.
„Radical Jewish Culture“
Das „goldene Zeitalter der Klezmer-Musik“ währte
bis zum Börsenkrach, der auch das Plattengeschäft ruinierte.
Zudem diskreditierte Assimilationsdruck die als rückständig
geltende jiddische Musik. Während Shoa und Stalinismus sie
in Europa vernichteten, starb sie mit den ersten Einwanderern in
den USA. Zwar blieben Spuren in der Unterhaltungsmusik (so in Benny
Goodmans Stück „And the Angels Sing“ von 1939,
das Swing und Bulgar verbindet), doch Juden sahen sie fortan als
nostalgische Ghettomusik.
Außerdem galt seit 1948 der Staat Israel als genuiner Ausdruck
jüdischer Säkularität. Mit riesigem Output, der die
Genregrenzen rasch sprengte, kehrte Klezmer Mitte der 70er-Jahre
jedoch zurück – ausgelöst von jungen Juden beider
US-Küsten, denen Anatevka-Potpourris auf Familienfeiern nichts
sagten und die bei der Suche nach jüdischer Identität
auf die alten Aufnahmen stießen. Joel Rubin, Klarinettist
und Klezmer-Forscher, spricht von der „instinktiven Sehnsucht,
mit dem Erbe von Eltern und Großeltern klarzukommen“.
Als Anfang der Bewegung gelten die „Klezmorim“ aus
Berkeley, in deren Gefolge sich zahlreiche weitere Bands gründeten.
Jiddische Sprache und Musik waren für sie Neuland, das es erst
zu erkunden galt. Von den großen Alten vom Beginn des Jahrhunderts
lebten zwar nur noch wenige wie Dave Tarras oder die Epstein Brothers,
aber sie erfreuten sich plötzlich größter Aufmerksamkeit.
Alte Aufnahmen wurden neu herausgegeben, Festivals mit inzwischen
beachtlicher Tradition begründet und Workshops veranstaltet.
Wissenschaftliches Interesse war ebenfalls geweckt, es gab Projekte
und Publikationen zur Kultur- und Musikgeschichte, während
sich New Klezmer als keineswegs ephemere Folkmode erwies und sogar
Europa erfasste, die Gründung von Bands und Workshopkultur
inklusive. Die Szene spaltete sich unterdessen in Traditionalisten
und Erneuerer, an deren Spitze seit 1988 die „Klezmatics“
aus New York standen.
Sie öffneten den Rootssound für Rock, Jazz und Weltmusik,
gaben aber den traditionellen Klezmer nie auf. Anderen war das zu
eng. „Ich wollte keine Museumsmusik mehr spielen. So habe
ich mit Klezmer experimentiert, ohne mich zu sorgen, ob es ‚authentisch‘
ist,“ umschreibt Ben Goldberg den Ansatz. Der frühere
Revival-Aktivist war Mitbegründer des „New Klezmer Trio“
aus Berkely, das mit Klezmerelementen umging wie Free Jazzer der
60er-Jahre.
Inzwischen gibt es sogar Avantgarde-Klezmer, etwa von dem von
Noise- und Industrial-Jazz inspirierten Multiinstrumentalisten Elliott
Sharp. Anstöße kamen immer wieder aus dem Umfeld der
Knitting Factory, vor allem von dem extrem experimentierfreudigen
Tausendsassa John Zorn, der auf seinem Label „Tzadik“
(www.tzadik.com)
sogar eine Rubrik „Radical Jewish Culture“ einrichtete,
die zwischen Klezmer, Avantgarde, Jazz und aktueller Klassik liegt.
Schwere Kost, die aber Maßstäbe setzt wie Zorns Alben,
die er mit dem Jazzquartett „Masada“ und dem „Masada
Chamber Ensemble“ einspielte. Jüdische Identität
ist immer wieder die zentrale Frage, auch in streitbaren Texten
wie 1992 unter dem Titel „Was genau ist diese Radical New
Jewish Culture?“ – intellektuell, umstritten, aber längst
nicht so beachtet wie die inzwischen sehr populäre Klezmer-Musik.
Aktuelle CDs und mehr
Musik:
· Oi Va Voi: Laughter Through Tears (Outcaste/PIAS; 2003)
· Yikhes/Stammbaum: frühe Klezmeraufnahmen von 1911–1939
(Trikont; 1995),
· Doyres/Generationen: traditioneller Klezmer von 1979–1994
(Trikont; 1995)
· Shteygers/Wege: neue Klezmer-Musik von 1991–1994
(Trikont; 1995)
· 17 Hippies: IFNI (Rent a Poet/HIPSTER-Records; 2004)
· The World Quintet feat. The London Mozart Players and
Herbert Grönemeyer (Enja; 2003)
Ausstellung:
Klezmer – hejmisch und hip
Bis 18. April 2004 in der Ev. Stadtakademie Bochum, Klinikstr.
20 – Fon: 0234/598 69 (Mo bis Fr: 8.30–13.00 Uhr sowie
zu Abendveranstaltungen)
Film:
Stefan Schwietert: A Tickle in the Heart. The Epstein Brothers
– Klezmer Music Legends. 1996 (s/w, 83 Minuten, Originalfassung
mit dt. Untertiteln; Zero Film/als Video bei absolut Medien)