Das 5. Münchner Pfingstsymposion widmete sich der menschlichen
Stimme
Die Stimme macht einen Menschen unverwechselbar. Sie gilt als
Ausdruck seiner Persönlichkeit und zugleich als eines der zentralen
Merkmale des Menschseins an sich – und das, obwohl die Sprachfähigkeit
im Prozess der Menschwerdung eine vergleichsweise junge Errungenschaft
ist.
Der Neandertaler verständigte sich noch mit unartikulierten
Lauten, zum Sprechen fehlten ihm die körperlichen Voraussetzungen:
Der Kehlkopf saß zu hoch. Erst mit dem Homo sapiens entwickelte
sich die gegliederte Sprache und parallel dazu wohl auch das Bewusstsein,
vermutet der Berliner Kulturhistoriker Thomas Macho. Denn auch,
wenn die Frage nach dem Urknall des Bewusstseins längst nicht
endgültig beantwortet ist – dass er mit der Ausformung
der menschlichen Stimme in unmittelbarem Zusammenhang steht, diese
Erkenntnis vereint inzwischen selbst unterschiedliche Disziplinen.
Das Bewusstsein will wach gehalten werden, mit diesem Anspruch
tritt das Münchner Pfingstsymposion an. Seit 1990 versteht
sich die Veranstaltungsreihe als internationales Forum für
den Austausch zwischen Kunst, Wissenschaft und Politik. Im Zentrum
stehen Konzerte, Vorträge und Gespräche über aktuelle
Themen, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert werden.
Die Musik bildet dabei den archimedischen Punkt, von dem aus Organisatorin
Ulrike Trüstedt Fragestellungen entwickelt, die den interdisziplinären
Austausch befördern und neue Impulse für das gesellschaftliche
Miteinander aussenden sollen: Wie denkt ein Mathematiker über
Pausen? Wie gehen Politiker mit Fehlern um? Oder in diesem Jahr:
Wie begegnet die Wissenschaft der Kategorie der Stimmigkeit? „Geistige
Geburtshilfe im sokratischen Sinne“ wolle sie mit derartigen
Fragen leisten, meint Ulrike Trüstedt, es komme darauf an,
offen zu bleiben für neue Herausforderungen.
Ein verstimmter Flügel gehört sicherlich zu den eher
unangenehmen Herausforderungen für das menschliche Ohr. Instrumente
werden deshalb üblicherweise vor dem Konzert in einen wohltemperierten
Zustand versetzt, und allenfalls ein Klavierstimmer wie Heribert
Wünsch dürfte diesem Vorgang ästhetische Qualitäten
abgewinnen. Gewöhnlich verrichtet Wünsch seine Arbeit
in den Hörsälen der Münchner Musikhochschule und
nicht vor den Ohren eines aufmerksamen Publikums.
Im Rahmen des Pfingstsymposions setzte er den Stimmschlüssel
auf offener Bühne an und ließ die Zuhörer im Münchner
Carl-Orff-Auditorium eine Stunde lang an den ostinaten Klängen
seiner Tätigkeit teilhaben. Das Programmheft versprach „das
Stimmen eines Flügels als konzertantes Ereignis“, doch
für manchen Besucher dürfte die ungewöhnliche Darbietung
eher eine akustische Zumutung gewesen sein. Wenn in der Musik etwas
nicht stimmt, so bemerkt dies eben meist auch der ungeschulte Laie.
Wie aber sieht es in den Naturwissenschaften aus?
Wer vermag heute noch zu sagen, ob wissenschaftliche Erkenntnisse
und Theorien tatsächlich stimmen, oder lediglich in sich stimmig
sind? Diese Frage sorgt auch innerhalb der Mathematik für Streitigkeiten
und hitzige Debatten, spätestens seit der Mathematiker Kurt
Gödel 1931 festgestellt hat, dass es immer Aussagen gebe, von
denen man nicht wissen könne, ob sie richtig oder falsch seien.
„Man muss die Natur knechten und foltern, damit sie ihre Geheimnisse
preisgibt“, schrieb schon Sir Francis Bacon, der Erfinder
des modernen Wissenschaftsprogramms im 16. Jahrhundert. Wissenschaftliche
Experimente beruhen stets auf einer willkürlichen Beschränkung,
auf einer Vereinfachung der Natur. Und so haben auch Physiker wie
Rainer Gruber vom Max-Planck-Institut Garching letztlich Zweifel
daran, ob die Stimme der Wissenschaft stets die Wahrheit spricht.
Zumindest verfügt sie über einen mächtigen Klang.
Die feinen Töne der Kunst dagegen verhallen nicht selten ungehört
im lautstark geführten Kampf um gesellschaftliches Prestige
und öffentliche Mittel. Selbst kulturelle Schreihälse
wie der Musikpublizist Theo Geißler empfinden eine gewisse
Ohnmacht im Fortissimo der medialen Berichterstattung. Oftmals,
so Geißlers Erfahrung, werde man nur vernommen, wenn man in
das laute Getöse mit einfalle. Doch wäre es nicht sinnvoller,
die Lautstärke bewusst zurückzunehmen, um sich vom allgemeinen
Grundrauschen abzuheben? Die Stimme zu senken und artikuliert zu
sprechen? Die Stimme macht einen Menschen unverwechselbar. Mit zunehmender
Lautstärke aber degeneriert sie schnell zum Schrei des Neandertalers.