Deutsche Erstaufführung des Klavierquartetts von Peteris
Vasks
Die alte Diskussion: Gehören oder dürfen Begriffe wie
Zugänglichkeit und Fassbarkeit auf das Gütesiegel moderner
neuer Musik? Aus der Sicht des durchschnittlich musikalisch vorgebildeten
Konzertbesuchers gerät zeit- genösssiche Musik oft in
einen Erklärungsnotstand, und die Hörerargumente gehen
dann in diese Richtung: Wem nützt eine Komposition, die sich
selbst genug zu sein scheint und sich so weit vom Hörer entfernt,
sich entzieht, dass eine verbindende Wechselwirkung nicht zustandekommt.
Tradition als Herausforderung:
Peteris Vasks. Foto: Charlotte Oswald
Was erreicht eine Musik, die so privat bleibt, dass der Hörer
wie auf verlorenem Posten das Gefühl nicht los wird, eigentlich
überflüssig zu sein. Der Lette Peteris Vasks geht in seinem
Klavierquartett (2000/2001) einen kompositorischen Weg, auf dem
der Hörer als Begleiter mitgehen kann. Nach dem Erleben der
deutschen Erstaufführung am 16. Mai im Rahmen des dreitägigen
„Chiemgauer Musikfrühlings“ im oberbayerischen
Traunstein kann dem Werk heute sicher Popularität vorausgesagt
werden, bei Freunden moderner Musik und bei Klavierquartettensembles.
Das Werk bringt hierfür viele Voraussetzungen mit. Vasks sieht
in traditionellen Elementen, Techniken, Stilmitteln, auf die er
ohne Scheu zurückgreift, nach wie vor eine starke künstlerische
Herausforderung. Mit unglaublicher Fantasie und in kompositorischer
Meisterschaft wird hier überkommenes Material neu ausgeschöpft,
verarbeitet und mit modernen Mitteln überlagert. Folkloreanklänge,
Lied, Tanz, Choral, Cantus firmus, Passaglia, Fugato – alles
mühelos erkennbare – weil altbekannte Elemente sprechen
sofort an. Dieses Wiedererkennen nimmt den Hörer für Vasks
Musik ein, er fühlt sich einbezogen und aufgehoben. Harmonien
berühren, bei aller innewohnenden Schärfe und Agressivität
vieler Passagen, durchaus und ohne kritische Irritation zu erregen,
spätromantische Bereiche. Die Rhythmen sind von archaischer
Struktur und gradliniger Stringenz; Melodien bleiben klar und verirren
sich nie in einem nicht mehr durchhörbaren Dickicht; bei der
Stimmführung behält der Hörer unschwer die Übersicht.
Insgesamt verschmelzen einzelne Abschnitte mit so klassischen Überschriften
wie Preludio, Danze, Canti drammatici, Quasi una passagaglia, Canto
principale und Postludio zu einem einzigen, breit angelegten, nahtlosen
Musikstück. Vasks setzt ganz auf den Reiz und die Wirkung von
Kontrasten – von Klaviersolo kontra Streichertutti, von Frage-
und Antwort-Prinzip, von Kulmination und Ruhephase und: von Satz
zu Satz. Er erläutert selbst: Das Klavierquartett „hat
sechs Sätze, wobei der folgende, kontrastierende immer am Höhepunkt
des vorhergehenden beginnt.“
Mit dem Ensemble raro (die Pianistin Diana Ketler, der Geiger Remus
Azoitei, der Bratschist Razvan Popovic und die Cellistin Beate Altenburg)
ist das Klavierquartett in beste professionelle Hände geraten.
Aus der persönlichen Zusammenarbeit mit dem Komponisten erklärt
sich etwa das Interesse und der starke Einsatz der vier Musiker
für das in Irland uraufgeführte Werk. Die exzellent vorbereitete,
hochmotivierte und technisch vorbildliche Interpretation kostete
die vitale Kraft der Musik voll aus. Gleichzeitig verwies das Ensemble
auf den „anderen“ Vasks, – auf die anrührende
Inbrunst und die fast schwerelose Verklärtheit der „stillen“
Sätze.
Diese vom Komponisten gezielt als Gegengewichte gesetzten Abschnitte
tragen in erheblichem Maße zur expressiven Energie des Klavierquartetts
bei. Es gab starken Beifall für das Ensemble raro und in anschließenden
Diskussionen viel Zustimmung für eine Musik, die sich nicht
verschließt, die integriert, die Klartext spricht. Eine CD-Aufnahme
mit dem Ensemble raro ist bereits geplant.