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nmz-archiv
nmz 2004/07 | Seite 16
53. Jahrgang | Juli/Aug.
Forum Musikpädagogik
Windmühlen bauen – für artgerechte Haltung
Der Deutsche Musikrat veranstaltete den Kongress „Musik
in der Ganztagsschule“
„Das Thema liegt sozusagen auf der Straße.“ Dass
man nicht viel Neues erfahren würde, kündigte Musikratspräsident
Martin Maria Krüger in seiner Eröffnungsrede an. Aber
darum ging es auch nicht in den Tagen vom 20. bis 22. Mai in Königstein
im Taunus. Zu einem Markstein der aktuellen Diskussion um Musik
in der Ganztagsschule wird dieser Kongress dadurch, dass der Musikrat
– oder der Verband Deutscher Schulmusiker durch die Personalunion
von Initiator Hans Bäßler als Vorsitzendem des VDS und
frisch nachgerücktem Mitglied des geschäftsführenden
Präsidiums des DMR – sich damit an die Spitze der Bewegung
katapultiert und mit dem abschließend präsentierten „Positionspapier
Musik in der Ganztagsschule“ auch gleichzeitig – wie
DMR-Präsident Martin Maria Krüger es formulierte –
einen „Schlussstein des diskursiven Vorlaufs“ vorlegen
möchte.
Initiativen anderer Verbände wie etwa des VdM, aber auch durch
modellhaft pragmatische Vorstöße in einzelnen Bundesländern
waren seit geraumer Zeit schon in Gang gekommen. Doch in Zeiten
notwendiger Zuspitzung von Sachverhalten und getreu des Inszenierungskonzepts,
das seinen Höhepunkt am Ende mit der Überreichung jener
Resolution an die KMK-Präsidentin erreichte, verkündete
Krüger: „Nach diesem Kongress geht es los.“ Doch
darf das neu erstarkte Selbstbewusstsein des Musikrats zunächst
einmal all diejenigen freuen, die dessen Profilierung auf dem Gebiet
der musikalischen Bildung nach dem Berliner Kongress „Musik
bewegt“ und dem Bildungstag der Frankfurter Musikmesse nun
konsequent fortgesetzt sehen.
Nun setzte sich der Kongress mit seinen rund 300 Teilnehmern durch-
aus konzentriert mit dem Verhältnis zwischen Musikunterricht
und Ganztagsschule auseinander. Was beständig grundtönte,
war freilich die Frage, ob es denn erst die Ganztagsschule brauche,
um die Situation der Schulmusik zu bessern; war die Einsicht, dass
natürlich die Ganztagsschule politisch nicht darum forciert
wird, die musikalische Bildung zu heben; war auch das Problem, ob
denn Ziele und Strukturen musikalischer Kinder- und Jugendbildung
allein auf die (Ganztags-) Schule auszurichten seien; und war besonders
aus Sicht des Berichterstatters der Zweifel, ob denn die Interessen
der musikalisch zu Bildenden immer so ganz im Vordergrund stehen.
Und vielleicht hätte die Schlussnote auch „das System
Schule“ nicht so sehr als das Maß aller Dinge thematisieren
müssen, sondern auch dieses zur Reflexion auffordern sollen:
Peter Hanser-Strecker – neben der Dresdner Bank Stiftung und
der Siemens Stiftung Ermöglicher dieser Tagung – nannte
das beim Namen: Musik gehört unverzichtbar zur „artgerechten
Haltung des Menschen“.
Ob Ganztagsschule unsere Probleme mit der Bildung lösen kann,
stellte schon Katrin Höhmann, Leiterin des Ganztagsschulprojekts
am Institut für Schulentwicklungsforschung der Uni Dortmund,
einführend in Frage. Muss sie doch auch andere politische Fehlentwicklungen
wie Eineltern- oder Doppelverdiener-Familien kompensieren, die Rekrutierung
brauchbaren Nachwuchses für die Hightech-Wirtschaft von morgen
betreiben und auch noch die Integration von Migranten bewerkstelligen.
Auch hier macht es nicht die Struktur, nicht das System, sondern
machen es die Inhalte und die Art und Weise ihrer Vermittlung. Klar
wurde, dass allein die „gebundene“ Form der Ganztagsschule
Verbindlichkeiten und Flexibilisierung im Stundenraster bringen
kann.
Modelle aus In- und Ausland
Soll die Musik „angesichts des herannahenden Sturmes keine
Hütte errichten, sondern Windmühlen bauen“, so die
Parabel eines Referenten, brauche es feste Fundamente. Die Bausteine,
die der Kongress an seinem ersten Tag vorstellte, schienen kaum
alle dazu geeignet. Einem Beitrag über das Musikausbildungssystem
in Finnland durfte man vor allem die Grundselbstverständlichkeit
abgucken, mit der in diesem nordischen Land Kultur und Musik zu
einem ganzheitlichen Bildungsverständnis gehören, das
zuerst den Menschen in seiner Individualität in den Blick zu
fassen versucht.
Roger Durston machte mit seiner Schilderung des traditionellen
Ganztagsschulwesens in seinem Heimatland England wenig Hoffnungen.
Es kann nicht befriedigen, dass Schüler den nachmittäglichen
Geschichtsunterricht verlassen, um sich eine Geigenstunde geben
zu lassen. Doch trug seine Vision einer wirklichen Reform von Schule
mit flexiblen, praktisch ausgerichteten, individuelleren und dynamischeren
Fördermöglichkeiten zur Utopie des Kongresses bei.
Einige Praxismodelle aus deutschen Landen hellten das Bild auf,
illustrierten, dass sich – vor Ort eben – schon einiges
tut und dass auch einiges geht. So stellten Volker Gerland und Rolf
Kessler ein Modellprojekt des Landesverbands der Musikschulen in
Nordrhein-Westfalen vor, in dem an vier Standorten Schule und Musikschule
erfolgreich intrumentalpraktischen Musikunterricht an Grundschulen
praktizieren: „Was wir im Grundschulalter versäumen,
ist in der Sekundarstufe kaum noch nachzuho- len“. Aus Rheinland-Pfalz
kam ein erfrischendes Beispiel der Kooperation einer Grundschule
mit der örtlichen Blaskapelle, das mit viel gutem Willen, ehrenamtlichem
Engagement und eigener und zugeholter Fachkompetenz auch Möglichkeiten
der Anschlussförderung für interessierte Kinder bietet.
Unbehagen hinterließ ein Marketingvorstoß der Initiative
„Let’s make music“ aus der Pipeline der Musikinstrumentenimporteure,
der Antworten nach inhaltlichen Fragen schuldig blieb. Dennoch wurde
die Anregung zum Bandspiel in Hauptschulen angenommen.
Ein letztes Beispiel der Zusammenarbeit einer regionalen Schule
mit freien Künstlern aus Rheinland-Pfalz riss das Publikum
nur in einem Punkt von den Stühlen: Karl-Heinz Held aus dem
Bildungsministerium des Landes punktete mit der Regelung, dass jede
Schule ihr vom Ministerium bewilligtes Budget frei zum Engagement
externer Partner individuell nutzen könne. Freier Markt für
freie Schulen – ein Weg mit Chancen, selbst verantwortete
Vor-Ort-Lösung statt genereller Verordnungs-Kleister. Aber
auch ein Weg mit Risiken, wenn Qualitätsmaßstäbe
fehlen und Beliebigkeit Platz greift.
Letzten Endes wird es kein Patentrezept, keinen Königsweg
geben, also auch keinen „Königsteiner Weg“. Für
bedürfnisorientierte, qualitätvolle und funktionierende
Partnerschaften muss die Politik im Bund, vor allem auch in den
Ländern und in den Kommunen die strukturellen Voraussetzungen
und Rahmenbedingungen schaffen. Hierbei sind auch die Verbände
als Berater und Akteure gefordert und unentbehrlich.
Die Arbeitsgruppen
Der zweite Kongresstag sah emsige Arbeitsgruppen: gaben vormittags
die „Anbieter“ den Ton an – also Musikschule,
Privatmusiklehrer, Kirchenmusik, Orchester und Theater, Rundfunk,
Tanz, Laienmusik, freie Träger und Künstler, Popmusik
– so richtete man sich nachmittags an den verschiedenen Schultypen
aus. Vorgeblich wurde hier jener Stoff erzeugt, aus dem das Abschlusskommuniqué
bestand, das Hans Bäßler und Hermann Josef Kayser am
letzten Tag präsentierten.
Was 300 Köpfe bewegte und bewegten – zweimal drei Stunden
rauchend, am Vormittag gefiltert durch das Erinnerungsvermögen
der Moderatoren und redaktionell verdichtet von Assistentin Brigitta
Richter vor- und nachmittags von Berichterstattern dem Plenum mosaikisch
zugetragen –, hatte über Nacht wohlgesetzte Form angenommen.
Kompliment den Autoren. Die derzeitige Präsidentin der Kultusministerkonferenz,
die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Doris Ahnen, nahm
das so legitimierte Papier freudig entgegen. Sie zeichnete ihr Bild
einer Schule von morgen, die „Leben in die Schule“ holt
und die „Schule ins Leben“ stellt. Dazu sei die Kooperation
„mit dem Umfeld“ ebenso wichtig wie die individuelle
Förderung. Und dazu brauche es „ein Konzept und kein
Korsett“. Und im Übrigen seien es gerade auch die Eltern,
die Ganztagsschule wollen, wie eine Befragung ergeben habe.
Natürlich wird das Positionspapier (abgedruckt in nmz 6/04),
geduldig wie es ist, einige Kritik zu ertragen haben. Hier nur soviel:
Dass der Musikrat es „begrüsst“, „das System
Ganztagsschule einzuführen“ und dabei auch noch „die
gebundene Form der Ganztagsschule“ empfiehlt, ist offenbar
auch im Musikrat durchaus nicht Konsens, äußerte doch
Bäßlers Präsidiumskollege Uli Kostenbader in einer
am 24. Mai erschienenen dpa-Meldung: „Bedenken hegt der Musikrat
vor allem gegen das Konzept der flächendeckenden Ganztagsschulen.
Kindern und Jugendlichen werde dann die Zeit fehlen, zur Musikschule
zu gehen“.
Und vielleicht hätte der Musikrat auf dem Kongress nicht nur
den bisherigen Bundesfachausschuss „Musikpädagogik“
mit Dank an seine Mitglieder auflösen, sondern auch endlich
den neuen Präsidialausschuss „Musikalische Bildung“
mit Bekanntgabe seiner Mitglieder einsetzen sollen. Vielleicht wäre
es auch besser gewesen, dies schon vor dem Kongress zu tun und mit
diesem frischen Gremium jene Kongress-Resolution zu erarbeiten.
Es ist zu hoffen, dass die Verfechter der Ganztagsschulmusik, die
soeben der Länderzuständigkeit auf dem Gebiet der musikalischen
Kinder- und Jugendbildung eine starke Lanze gebrochen haben, sich
und anderen damit nicht – lange bevor sich auf diesem Gebiet
auch nur ein Quentchen Utopie erfüllen wird – ein Bein
gestellt haben. Zu denken ist an die weitgehend unter Ausschluss
der Öffentlichkeit, aber mit starker Anteilnahme der KMK stattfindende
Arbeit der sogenannten „Förderalismuskommission“,
wo Tendenzen unübersehbar werden, im Zuge der „Entflechtungsdebatte“
zwischen Bund und Ländern die bundeszentrale Zuständigkeit
für von bundesweiten Infrastrukturen der musikalischen Bildung
abzuschaffen und damit auch deren Förderung. Neben einer Vielzahl
seiner Mitgliedsverbände gehört dazu auch der Deutsche
Musikrat.