[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2004/07 | Seite 16
53. Jahrgang | Juli/Aug.
Forum Musikpädagogik
Kinder, Komponisten, KunstRaum
Kunsu Shim und Gerhard Stäbler arbeiten mit Kindern aus
Stade
Er kam gerade aus Duisburg, wo ihm der Musikpreis der Stadt verliehen
worden war. Da findet man ihn jetzt in einer Reihe mit Preisträgern
wie Yehudi Menuhin, Hans Werner Henze und Krzysztof Penderecki.
Hier zu Stade hockt der Komponist Gerhard Stäbler im Schneidersitz
bei den Vorschulkindern und bringt ihnen bei, nicht, wie man auf
dem Kamm bläst, nein, noch schlichter: wie man ein Blatt Papier
zu einem Musikinstrument macht, indem man seinen Rand am blasenden
Mund vorbeiführt. Muss das sein?
Es ist die letzte Oktoberwoche im Jahr 2003. Der andere Hauptakteur
ist Kunsu Shim, deutscher Komponist koreanischer Herkunft. Wie bereitet
er sich auf seinen dreimonatigen Japanaufenthalt vor, der kurz bevorsteht,
wo er das angesehene Genko Uchida Fellowship wahrnehmen wird? Mit
einer Gruppe von Kindern in der Grundschule wickelt er Pralinen
aus. Sie lauschen auf das Knistern der Folien. Plötzlich Stop.
Ihr Gehör dringt vor in die Stille. „Pièce japonaise“
heißt seine Performance aus dem Jahr 2000, „für
eine beliebige Anzahl von Spielern“.
Die Vorgänge finden statt im Altländer Viertel von Stade,
das in umlaufenden Programm- und Strategiepapieren als sozialer
Brennpunkt bezeichnet wird, deutlicher: als Elendsviertel. Von den
etwa 2.500 Bewohnern sind 40 ProzentAusländer oder Aussiedler,
60 Prozent Sozialhilfeempfänger. 16 oder 17 Ethnien leben hier,
und die Häuser hindurch ziehen sich spezifische „Milieus“,
die sich herausgebildet haben. Die Kriminalität ist beträchtlich,
auch die Jugendkriminalität. Bei den Kindern ist der Anteil
der Nicht-Deutschstämmigen, unter ihnen Kurden, Sinti, Libanesen,
noch wesentlich höher: über 80 Prozent. Die Stadt an der
Elbemündung schlägt man der Waterkant zu; doch in dem
„Stadtteilkulturprojekt“ von einer Woche, das die beiden
Komponisten mit etwa 220 Kindern durchführen, in Kindergarten,
Montessorischule und Jugendzentrum, sind die niedersächsischen
Semmelköpfe in der Minderheit.
Dass Musik Schranken niederzulegen vermag und integrative Eigenschaften
hat, weiß man, seitdem sie existiert. Dies wollen Shim und
Stäbler nutzen, und dazu setzen sie ganz tief, an ihrer Basis,
an. Am Montagmorgen sind alle Kinder beisammen in dem großen
Bewegungsraum der Schule. Zuallererst gilt es, sie zu konzentrieren
und einzustimmen. Ständiger Augenkontakt ist nötig. Beiden
kommt zugute, dass sie erfahrene Performer sind: Stäbler hat
viele Jahre Straßentheater praktiziert; bei Shim machen die
Performance-Arbeiten einen wesentlichen Teil des Oeuvres aus.
„Was heißt Wasser?“, fragt Stäbler in der
Gruppe Wasser. „av“, kommt es auf Kurdisch, „su“,
auf Türkisch, „pânî“, auf Hindi. Und
was für Klänge kann Wasser machen? Hierher gehört
auch Stäblers „Rachengold“. Man hat es zutreffend
ein Gurgelstück genannt, und wer es nicht zur Aufführung
übernehmen will, ist kein richtiges Kind. Charakteristik und
Besetzung lauten: Geheime Partitur für einen Vokalisten, ein
Glas Wasser und große Stoppuhr (ad lib.). Dass es der Konzert-
und Opernbetrieb ist, dem Komponist Stäbler, in öffentlichen
Veranstaltungen meist selber der Vokalist, ein Contra gurgelt, steht
auf einem anderen Blatt – und auf anderer Ebene. Bringt man
ein Werk unter die Kinder, so zeigt sich, ob es körperlichen
und sinnlichen Grund hat und ob man um es herumgehen kann, damit
es Ansichten liefert.
Man kann die Kinderschar des Altländer Viertels ansehen als
die Weltgesellschaft in der Nuss. So war es ein guter Griff, dass
der KunstRaum-Hüll, der das Projekt im Einvernehmen mit der
Kommune ins Leben rief, zwei kosmopolitisch orientierte und weltweit
operierende Musiker dafür gewann, die gleichsam allezeit den
Globus im Blick haben. Jeder von beiden arbeitet auf seine Weise
gesellschaftsbezogen; Stäbler tut’s geradezu notorisch.
Wenn es ihm darum geht, Welten zusammenzuführen – Kulturwelten,
Denkwelten –, sie auf dem Wege des Montierens von Bestandstücken
ineinander zu stellen, so dass sie einander durchdringen, so kommt
es dem anderen darauf an, was Welt heißen kann, in den grenzenlosen
Raum der Stille einzusenken und mit ihr zu durchtränken.
Der KunstRaum hat seinen Sitz in Drochtersen-Hüll, etwa zwanzig
Straßenkilometer nördlich von Stade. Er widmet sich in
seinem Gebiet zwischen Elbe und Weser der zeitgenössischen
Kunst und auf dem Felde der Musik entschieden der Neuen Musik. Besondere
Aufmerksamkeit gilt der Zusammenarbeit mit Jugendlichen. Bei den
Leuten vom Metier genießt die Scheune, die unter Denkmalschutz
steht und die umgebaut wurde, den Ruf eines Veranstaltungsraums
mit besonders guter Akustik.