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nmz 2004/07 | Seite 34
53. Jahrgang | Juli/Aug.
Forum Musikpädagogik
Genuss und Genießen – Musik als Lebensmittel
Musikpädagogik zwischen Spaßgesellschaft und Sachanspruch,
Teil III · Von Christoph Richter
In den vergangenen Ausgaben hat der Autor einen Kurs für
die Musikpädagogik vorgezeichnet, der sie zwischen der Skylla
der Spaßgesellschaft und der Charybdis des Sachanspruches
der Musik hindurchzusteuern trachtet. Im letzten Teil des Vortragstextes
wird für ein Verständnis der Musik als Lebensmittel plädiert.
Die seemännische Redeweise nochmals aufnehmend gilt es also,
sowohl die unwirtliche Wildwasserfahrt zwischen den schroffen Felsen
zu vermeiden beziehungsweise sie sich für die Fahrt nutzbar
zu machen, als auch sich nicht in den Untiefen der allzu verführerisch-unterhaltsamen
Kreuzfahrt in die seichten Gewässer zu verlieren. Vielmehr
ist es – segeltechnisch gesprochen – Aufgabe der Musikdidaktik,
zwischen beiden Gefahren aufzukreuzen auf einem Kurs, der von beiden
mitnimmt, was die Fahrt zu einem guten Ziel führt, nämlich
zum Umgang mit Musik als einem hilfreichen und sinnstiftenden Lebensmittel,
zu einer Hilfe für die Gestaltung von Leben.[1]
Um diesen Kurs abzustecken, unterziehe ich den Begriff des Genusses
oder des Genießens einer gedanklich-etymologischen Modulation
in eine seriösere Tonart. Den Modulationsweg verdanke ich Hans
Robert Jauß, der sein Konzept der ,Ästhetischen Erfahrung‘
mit der Formel „Selbstgenuß durch Fremdgenuß“
erläutert hat.[2]
In dieser Formel übersetzt er den Begriff des Genießens
zurück in die alte Vorstellung vom ,Genossen‘ als einem,
der sein Vieh auf derselben Weide weidet, der also teilnimmt an
dem, was einem anderen gehört. Genießen im Verständnis
der Teilhabe und Teilnahme, im Verständnis des (Mit-)Gebrauchs
einer Sache führt in der Argumentation von Hans Robert Jauß
zum Verstehen über den Weg der Auseinandersetzung mit der Fremdheit
und Andersheit des Gegenübers. Ästhetische Erfahrung entsteht
– im Verständnis der Gadamerschen Hermeneutik, an die
Jauß sich anschließt – als eine Art dialogischen
Zirkels zwischen dem ‚Ins-Spiel-Bringen‘ der immer schon
selbst mitgebrachten Erfahrung und dem genauen und getreuen ‚Sich-Einlassen‘
auf das, was das Gegenüber an Verstehen und Genießen
anbietet.
Ein Lebensmittel ist etwas, das zum Überleben oder zur Gestaltung
von Leben notwendig und dienlich ist. Wie die anderen Künste
erfüllt Musik in allen Kulturen und Gesellschaften geachtete
und wichtige Lebensfunktionen. Zu fragen ist, auf welche Weisen
und in welchen Situationen sie diese Funktionen erfüllen kann
und welche Voraussetzungen Musikerziehung hierfür beibringen
kann oder muss.
Der Mensch als Gestalter
Vielleicht hilft eine doppelte Überlegung weiter, eine allgemein-theoretische
und eine alltäglich-praktische. Zunächst die theoretische:
Der Mensch ist jenes Lebewesen, das sein Leben selbst gestalten
kann, aber auch muss, in Gemeinschaft mit anderen und in der Auseinandersetzung
mit der Natur (einschließlich seiner eigenen). Auf die unauflöslich
tragische Doppelrolle zwischen Schöpfertum und Nichtigkeit
verweist schon der Schöpfungsbericht des Alten Testaments.
Der Vorzug gegenüber den anderen Lebewesen, welcher darin besteht,
dass der Mensch ein Bewusstsein von sich selbst hat, dass er neben
und außerhalb von sich stehend sich selbst und sein Leben
betrachten, planen, gestalten und beurteilen kann, (dieser angebliche
Vorzug) gerät immer wieder in Widerspruch und sogar in handfesten
Widerstreit zu allem, was ihn an seine biologische Natur und deren
einengende Bedingungen unlösbar bindet und oft genug schmerzlich
erinnert: an die Vorläufigkeit und Vergeblichkeit seines Handelns
und Denkens und an das Bewusstsein seiner Endlichkeit. Da ich, wie
die meisten Menschen, von einigen wenigen Fremdzitaten lebe, möchte
ich auch hier nicht auf jenes Lieblingszitat verzichten, mit dem
Helmut Plessner die besondere Lebenssphäre des Menschen beschreibt,
welche er die „exzentrische Positionalität“ des
Menschen nennt:[3]
„Positional liegt ein Dreifaches vor: Das Lebendige ist Körper,
im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper
als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches
positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person.
Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner
Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz
ist wahrhaft auf Nichts gestellt.“
Wichtig für unsere Überlegungen ist der letzte Satz:
„Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.“ Wir
haben nichts Verlässliches in der Hand, um unser Leben sicher
zu gestalten; und wir bauen, was wir aus uns und aus unserem Leben
auch immer zu machen versuchen, auf Sand. Plessner verdeutlicht
die Konsequenzen aus seinem Verdikt über den Menschen in drei
anthropologischen Grundgesetzen, deren drittes er das „Gesetz
des utopischen Standorts. Nichtigkeit und Transzendenz“ nennt
(vgl. S. 419 -425).
Die „exzentrische Form treibt den Menschen zur Kultivierung,
sie weckt Bedürfnisse, welche nur durch ein System künstlicher
Objekte befriedigt werden können, und zugleich prägt sie
ihnen den Stempel der Vergänglichkeit auf. (...) Seine konstitutive
Wurzellosigkeit bezeugt die Realität der Weltgeschichte. Aber
der Mensch erfährt sie auch an sich selbst. Sie gibt ihm das
Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit und korrelativ dazu der Nichtigkeit
der Welt.“ (S. 419).
Der Mensch reagiert auf diese Einsicht und Erfahrung jedoch nicht
nur mit Depression, sondern auch mit dem Willen zu und der ,Einbildung‘
von Größe und Schöpfertum. Seine exzentrische Position
bringt ihn immer wieder dazu, auf der Suche nach Identität
und Verlässlichkeit Gestaltungen hervorzubringen und zu gebrauchen,
die ihm Sicherheit, Lebenssinn und Lebenserfüllung wenigstens
verheißen. Die Zeugnisse dieser Gestaltungsversuche von Leben
zeigen sich in den Formen der Behausungen, in gesellschaftlichen
Ordnungen, in den Umwandlungen der Natur durch Technik, im Denken,
im Glauben, in Bildungsvorstellungen – und in den Künsten.
In allen diesen Gestaltungsversuchen zeigt sich jedoch immer auch
der utopische Grundzug der besonderen menschlichen Position.
Doppelte Funktion der Künste
Die verschiedenen Epochen und Kulturen, die wir als Geschichte
der Menschheit betrachten und erforschen, sind – so betrachtet
– nichts anderes als die Kette jener Versuche, von diesem
utopischen Standort aus Leben zu gestalten. Wir selbst sind Glieder
dieser Kette, fühlen uns in sie eingebunden, versuchen sie
zu erkunden und zu deuten, um uns selbst zu verstehen, um Lebensmöglichkeiten
im Vergangenen zu gewinnen und um diese Kette in neuen Versuchen
weiter zu spinnen. Die Künste übernehmen eine doppelte
Funktion in diesem Versuchs- und Gestaltungsfeld: Mit ihnen versuchen
Menschen, ihr Leben angenehm auszuschmücken; und sie versuchen,
in den Künsten sowohl ihre exzentrische Situation als auch
ihre Gestaltungsversuche darzustellen, sie zu verstehen und zu deuten.
Ich kehre zu jener Bestimmung der Musikpädagogik zurück,
nach welcher Musikunterricht eine praktische Anregung und eine Hilfe
zur Gestaltung von Leben mit Musik sein kann. Zu lehren und zu lernen,
wie Musik als ein Mittel zur Gestaltung von Leben zu nutzen ist,
zeigt sich in allen Möglichkeiten, in denen Menschen mit Musik
Umgang pflegen: Menschen brauchen und gebrauchen Musik zum Träumen;
um Einsamkeit zu überspielen oder - im Gegenteil - zu füllen;
um ihren Körper zu fühlen und ihn als Ausdrucksmittel
zu benutzen; um Atmosphäre zu schaffen oder in sie einzutauchen;
zum Meditieren, zum Wahrnehmen und Ausleben von Stimmungen und Gefühlen;
für eine bestimmte Art des Denkens und des Vorstellens; für
Versuche, das Spiel ästhetischer Strukturen zu erleben, zu
schaffen und zu verstehen; um Gemeinschaft zu bilden und zu erleben.
Andere gebrauchen Musik als widerspenstigen Gegenstand, um sich
mit ihr – musizierend, untersuchend, hörend – auseinanderzusetzen,
um Identifikation zu finden, um die eigene Lebendigkeit zu bereichern.
Wieder andere gebrauchen Musik, um ,Welt‘ zu entdecken und
für sich zu öffnen, gleichsam als Kultivierung eines erträglichen
Lebensumfeldes.
Musik ist, nimmt man dies alles zusammen, Lebensmittel für
den Körper, für das Gemüt oder die Seele und für
den Geist. Menschen gebrauchen sie sowohl zum Trost über die
Einsicht in ihre Endlichkeit und Nichtigkeit als auch zum Ansporn
für den Aufbau von Lebenslandschaften, in denen Freude, Genuss,
Gestaltungswille und Nachdenklichkeit sich ausbreiten und ihn gewissermaßen
einkleiden. Sie ist Gestaltungsmittel für Lebensorte, Lebenssituationen
und Lebensgemeinschaft. Kurz: Sie ist Lebensmittel für den
Menschen, der im Zustand zwischen Nichtigkeit und Überhöhung
sein Leben verbringt.
Musik ist ein Lebensmittel auch für alle, die in früheren
Zeiten und die heute in anderen Kulturen lebten und leben. Jede
Musik, auch jene, die als autonom und absolut bezeichnet wird, bildet
einen kulturellen und ästhetischen Zusammenhang mit den Intentionen
und Situationen, in denen und für die sie hervorgebracht wurde
und wird. Deshalb ist es zumindest missverständlich, mit Musikwerken
so umzugehen, als ob sie herausgeschnitten seien oder herausgelöst
werden könnten aus dem geschichtlich und sozial veränderlichen
Zusammenhang, in welchem sie zu Lebensgestaltung beitragen. Die
Werke der Musik nur strukturell oder lediglich als historische oder
ethnische Dokumente zu betrachten, bedeutet bereits ein hohen Grad
von Abblendung. Sie haben vielmehr den Anspruch, in den Kontexten
ihrer Kultur verstanden zu werden. Dieser Anspruch zielt auf den
doppelten Sinn von ,kulturerschließend‘: als Erschließen
des kulturellen Umfeldes einer Musik, und als Erschließen
einer neuen und persönlichen Lebenskultur von Menschen mit
Hilfe (auch) von Musik.
Die Zahl und Weisen der Möglichkeiten, Musik als ein Lebensmittel
zu gebrauchen, ist und sind groß und sind vielfältig.
Zu ihnen gehören: Hören mit seinen zahlreichen Intentionen
– Musizieren – Komponieren und Erfinden – Umsetzen
in Bewegung – bildlich-graphische Darstellungen – Sprachliche
Umsetzung/Reden über Musik – Erforschung und Untersuchung
der musikalischen Materialien und Strukturen – Musik in ihren
Kontexten aufsuchen.
Alle diese Möglichkeiten der Beschäftigung finden auf
einer weiten Skala statt zwischen den Polen einer verbindlicheren
Nähe zu den musikalischen Sachverhalten und Gegenständen
und einer größeren Nähe zum subjektiven Eindruck
und Interesse.
Die Fähigkeit, auf dieser Skala zu spielen, ist eine wichtige
Aufgabe und ein wichtiges Ziel eines Musikunterrichts, der dem Auftrag
gerecht werden will, mit Musik Gestaltungsmöglichkeiten des
Lebens anzubieten. Ein besonders wichtiges Ziel besteht darin, daß
Schüler lernen, die verschiedenen Umgangsmöglichkeiten
selbst zu wählen.
Und es gibt noch etwas anderes zu beachten: Die Beschäftigung
mit den Sachverhalten der Musik ist nicht gleichzusetzen mit der
Beschäftigung mit dem Denken, mit den Systemen oder mit der
Terminologie der Musikwissenschaften und der Musiktheorie. Es geht
vielmehr um das naive und ursprüngliche Befragen der Materialien,
der Strukturen und Gestalten, der akustischen Bedingungen und der
ästhetischen Intentionen, ausgelöst von der mitgebrachten
Erfahrung, vom Staunen, von der Ratlosigkeit und dem Stolpern, mit
anderen Worten: Es geht um das Entdecken und Erproben einer eigenen,
zunächst selbst hergestellten und erfahrenen Musik-,Theorie‘.
Schlussgedanken
Was also ist zu tun, damit das Schiff des Musikunterrichts weder
an den Klippen der Skylla, das heißt an verselbständigten,
vielleicht sogar auf wissenschaftliche Terminologie reduzierten
und abbilddidaktisch verkürzten Sachansprüchen zerschellt,
noch von der Charybdis, also von spaßpädagogischer und
erlebnispädagogischer Verführung aufgesogen wird? Als
Voraussetzung für eine glückliche Fahrt seien zwei Forderungen
genannt:
1) Ein Sachanspruch der Musik ergibt sich erst und nur
aus den Zielen und Bemühungen einer musikpädagogischen
Konzeption, die Musik als Mittel und als eine Möglichkeit der
Gestaltung von Leben versteht.
2) Der Umgang mit Musik als Teil und Zeugnis des Lebens,
als helfendes und bereicherndes Lebensmittel, und das Einüben
in diesen Umgang sowie die Reflexion und Selbstvergewisserung über
das ,Lebensmittel Musik‘ nötigen dazu, Musik auch in
ihren Sachverhalten ernst zu nehmen.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass in diesem Konzept der genaue,
der abblendende Blick auf musikalische Sachverhalte unverzichtbar
ist, wo und wann er gebraucht wird. Die (wissenschaftliche) Beschäftigung
mit den musikalischen Sachverhalten hat ihren Platz jedoch nicht
in einer dem Umgang mit Musik vorgelagerten Propädeutik.
Der Sachanspruch der Musik darf auch nicht ein (ohnehin sinnloses)
Lernen ‚auf Vorrat‘ fordern, eine Vorratswirtschaft
für Kenntnisse und für Können, die angeblich später
einmal nötig werden. Schließlich sollte er auch nicht
unkritisch die wissenschaftliche Terminologie und Systematik als
Verstehensziel des Musikunterrichts zugrunde legen und einfordern.
Es geht nicht um die Lehre über die Musik, sondern um das eigene
entdeckende Denken und Verstehen.
Mit anderen Worten: Zu den Aufgaben und Zielen des Musikunterrichts
gehört es, zu erproben, zu üben und zu lernen, wie man
sich auf der Skala der Wirklichkeitserfahrung tummeln kann –
zwischen dem Pol der erlebenden und verstehenden biographischen
Erfahrung und dem Pol notwendiger und vorübergehender Abblendung.
Diese Entscheidungen sollten im Einzelfall von den Situationen,
von den Interessen der Betroffenen und von den (anthropologisch
verantworteten) Zielen aus bestimmt werden. Sie müssen immer
neu gefällt werden, als Grundlage und Bestandteil des Unterrichts
selbst, nicht als dessen Vorgabe. Diese Auseinandersetzung gehört
als Fragestellung in den Unterricht selbst hinein. Dabei ist freilich
darauf zu achten, daß ein aufbauender Zusammenhang der Beschäftigung
mit musikalischen Sachverhalten entsteht, nicht vom System und vom
Lehrer vorgegeben, sondern aus der gemeinsamen Bemühung entstehend.
Als musikpädagogische Konzeption formuliert bedeutet dies:
Die Beschäftigung mit Musik beginnt bei den Erscheinungen und
den Situationen, welche Musik als ein Lebensmittel akzentuieren.
Sie führt zu einer Auseinandersetzung, die vom Staunen, Stolpern
und Fragen nach dem Was, Woher, Wie und Warum geleitet ist –
zu Entdeckungen, die von den mitgebrachten Erfahrungen motiviert
werden. Sie bedient sich dabei der vielen Umgangsweisen mit Musik,
um allmählich mehr Klarheit und Vertrautheit zu schaffen. Das
Bemühen, sich auf den Partner Musik einzulassen und ihn sich
anzueignen, schließt auch jene Art der Auseinandersetzung
ein, bei der die musikalischen Sachverhalte nach dem Prinzip der
methodischen Abblendung untersucht und erkannt werden.
Anmerkungen
1 In ähnlichem Sinne spricht Wolfgang Suppan in seinen
Thesen zur Konzeption einer Musikanthropologie von Musik als einem
„Gebrauchsgegenstand“ des Menschen. Wolfgang Suppan,
Der musizierende Mensch. Eine Anthropologie der Musik. Mainz 1984,
S. 28 ff.
2 Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische
Hermeneutik, Hamburg 1991, S. 71–90
3 Helmut Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1926/46).
Gesammelte Schriften IV , Frankfurt 1981, S. 365