41. Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ im Schwarzwald
„Provinz ist nicht gut. Provinz ist nicht
schlecht. Provinz ist eine Möglichkeit. (...) Provinz ist,
was du daraus machst.”
Walter Höllerer, Literaturwissenschaftler, Dichter, Kosmopolit,
Professor in Houston und Tokio und gebürtiger Oberpfälzer
verdichtete 1977 in diesen Zeilen, was wir alle schon immer vermutet
und mal mehr, mal weniger prägnant auch schon formuliert haben.
Der Höllerer’schen Bilanz können sich auch die Veranstalter
des 41. Bundeswettbewerbs “Jugend musiziert“ anschließen.
Er hatte vom 26. Mai bis 3. Juni in den Städten Villingen-Schwenningen
und Trossingen stattgefunden.
Begleitet gleichermaßen von Unkenrufen und Staunen. Denn
was sich auf Landesebene bereits abgezeichnet hatte, wurde auf Bundesebene
neuerlich Wirklichkeit: Die Rekordzahl von 1.907 Landespreisträgerinnen
und -preisträgern hatte sich qualifiziert und folglich die
Absicht, sich über die Pfingsttage in der Schwarzwald-Region
aufzuhalten.
Nun folgen Logistik und Aufbau des Bundeswettbewerbs Jahr für
Jahr demselben Muster. Das gilt nicht nur für die Planung und
Platzierung der Konzerte, sondern auch für die Themen Verpflegung,
Übernachtung und Aufbau der Orga-Zentrale. Der Nervenkitzel
liegt allerdings darin, diese Struktur am „grünen Tisch“
auf den jeweiligen Wettbewerbsort zu adaptieren, und zwar so geschmeidig,
dass alle Improvisationen und Blitzlösungen für die Hauptpersonen
vor den Kulissen nicht spürbar werden. Der organisatorische
Aufwand für einen Bundeswettbewerb “Jugend musiziert“
im 21. Jahrhundert ist buchstäblich unvergleichlich, die Planung
olympischer Spiele mag man vielleicht noch heranziehen, mit dem
entscheidenden Unterschied dass das IOC dort eben dann neu bauen
lässt, wo die örtlichen Gegebenheiten unzulänglich
sind. Die Bundesgeschäftsstelle kooperiert hingegen in sensibelster
Weise mit den örtlichen Gastgebern, um Unmögliches möglich
zu machen. Dabei wird, um das an dieser Stelle einmal deutlich zu
sagen, den Städten die Gastgeberrolle nicht etwa von außen
„aufgezwungen“, der „Flying circus“ “Jugend
musiziert“ folgt vielmehr einer offiziell ausgesprochenen
Einladung, die die Städte und das zugehörige Bundesland
im Wissen aussprechen, dass sie die Durchführung des Bundeswettbewerbs
in dieser Rolle mitfinanzieren müssen. Die Einladung wird mit
der Maßgabe angenommen, die Bedürfnisse für “Jugend
musiziert“ vor Ort zuvor schnellstmöglich auf Herz und
Nieren zu prüfen. Insofern hatten sich auch Villingen-Schwenningen
und Trossingen dieser Prüfung zu unterziehen – und sie
mit ausgezeichneten Noten bestanden! In einem Radius, kleiner als
von Berlin-Mitte nach Berlin-Charlottenburg, befanden sich eine
Musikhochschule, eine Bundesakademie, ein Konservatorium und zwei
Musikschulen. Für die Bereitstellung von Einspiel-, Übe-
und Wertungsräumen waren diese Voraussetzungen günstig,
dennoch wurden weitere zwölf Räumlichkeiten auf ihre akustische
Tauglichkeit getestet, damit sie den Ansprüchen von rund 1.100
Wertungsspielen standhielten.
Betten im Rotationsverfahren
Ungleich schwieriger mag die Quartiersuche für Wettbewerbsgäste
in Städten solcher Größe sein, denn nicht nur müssen
taugliche Massenquartiere für die Jugendlichen gefunden werden,
auch die Gäste und Begleiter im Schlepptau der erwarteten 1.900
Teilnehmer möchten adäquat untergebracht sein, oder zumindest
auf einen Pool von Hotels und Pensionen zurückgreifen können,
um sich dann auf eigene Faust ein Quartier zu suchen. Gerechnet
wurde in diesem Jahr mit rund 4.000 Gästen aus dem In- und
Ausland, für die die Kapazitäten von fünf Hotels,
einem Hotelfachschul-Internat, der Trossinger Musikakademie und
der Villinger Jugendherberge bereit standen. Natürlich sind
dies summa summarum nicht 4.000 Betten, sie sind auch gar nicht
nötig, denn sie wären es nur, wenn jeder Besucher die
Gesamtdauer des Bundeswettbewerbs vor Ort bliebe. So aber ist „Wechsel“
das Prinzip, der, zumindest für die Teilnehmerquartiere, unter
den Argusaugen eines Mitarbeiters abläuft, denn jedes freie
Bett ist wertvoll. Die Kooperation zwischen den örtlichen Anbietern
und ihren Ansprechpartnern im Team von “Jugend musiziert“
war auch hier vertrauensvoll, umso mehr, als die Hoteliers die angekündigten
Tausende von Gästen schließlich wirklich zu sehen bekamen.
Bis dato war über den Nutzen für die Region in Sachen
Hotellerie und Gastronomie spekuliert worden, und das mit unverhohlener
Skepsis. Sie ließ sich bis zum Startschuss zum 41. Bundeswettbewerb
“Jugend musiziert“ nicht vollständig ausräumen,
auch wenn der Projektleiter Hans Peter Pairott mehrmals in nicht-öffentlichen
Gemeinderatsitzungen und auf der Auftakt-Pressekonferenz über
positive Erfahrungen aus den vergangenen Wettbewerbsjahren berichtete.
Zu nebulös schien der Kandidat “Jugend musiziert“
den Stadtverantwortlichen, mussten sie schließlich ihren Wählerinnen
und Wählern gegenüber die Ausgaben für eine externe
Veranstaltung rechtfertigen, und dies in Zeiten leerer Stadtsäckel.
„Was kriegen wir dafür?“ lautete in der Verhandlungsphase
der immer wieder gehörte Satz, der auch in den Lokalausgaben
der drei in der Region erscheinenden Zeitungen in schöner Regelmäßigkeit
zu lesen war.
Prüfstein Zeitungsmeldung
Apropos: Drei voneinander unabhängige Zeitungen für
zwei Städte mit insgesamt 95.000 Einwohnern, in manch anderer
deutschen Großstadt ist die Medienvielfalt nicht so groß!
Und Villingen-Schwenningen und Trossingen signalisierten bereits
hier ihren Gästen, dass sie so einfach nicht zum großen
Chor der Begeisterten umzustimmen sein würden. Dass dann doch
alles anders kam, dass “Jugend musiziert“ das Event
der Pfingstferien wurde, daran war maßgeblich eben jene, zunächst
in Teilen störrisch wirkende Presse beteiligt. Als Veranstalter
wünscht man sich für die eigene Veranstaltung gleich von
Anbeginn den Zuspruch massenhaft und uneingeschränkt. Gleichzeitig
kennt man die „Schlaglöcher“ des Events und weiß
aus Erfahrung, wie lange es dauert, bis der Funke auf diejenigen
überspringt, die als Konzertpublikum gewonnen werden sollen.
Jedoch bereits beim Begrüßungskonzert 2004 konnten sich
die Verantwortlichen bei “Jugend musiziert“ überrascht,
aber zufrieden die Hände reiben: Alle 1.000 Sitzplätze
im Franziskaner Konzerthaus Villingen waren im Handumdrehen besetzt,
und ein begeisterungswilliges Publikum lauschte dem Landesjugendorchester
Baden-Württemberg.
Die umfangreichen Ankündigungen des Konzertes durch die örtlichen
Medien waren ganz offensichtlich aufmerksam gelesen worden. Wie
geradezu vergnüglich Öffentlichkeitsarbeit sein kann,
wenn die Wege in die Reaktionen nicht nur kurz, sondern auch breit
und komfortabel wie Boulevards sind! Kein Buhlen um Aufmerksamkeit
zwischen hundert anderen, nicht minder engagiert werbenden Mitveranstaltern,
kein Kampf um Glaubwürdigkeit, keine „Kaltakquise“,
wo zunächst der Sinn der Veranstaltung selbst gerechtfertigt
werden muss, bevor man sich überhaupt mit den aktuellen Inhalten
beschäftigt. Und so kurz wie der Weg in die Redaktion, so kurz
war auch der Weg der Zeitung zu ihren Lesern. Der Grad an Glaubwürdigkeit,
nicht nur in Villingen-Schwenningen und Trossingen, sondern in allen
kleineren Städten, ist ungleich höher als in Metropolen
und die Zeitungsaussage lässt sich auch mit Leichtigkeit am
beschriebenen Objekt überprüfen. Stimmt dann auch noch
das Produkt, was im Falle des Bundeswettbewerbs “Jugend musiziert“
unbestritten ist, ist mit dem ersten Konzert bereits ein treuer
Fan gewonnen. Städte wie Villingen-Schwenningen oder Trossingen
mit ihrer vergleichsweise homogenen Bevölkerungsstruktur haben
noch dazu die Wirkung, dass sehr schnell eine Identifikation mit
Veranstaltungen, die man für gut befunden hat, stattfindet,
und dass überzeugte „Erstbesucher“ nach dem Domino-Stein-Prinzip
für immer mehr Publikum sorgen.
Kleine Städte – große Wirkung
Von ganz ähnlichen Erfahrungen mit Veranstaltungen außerhalb
der Metropolen berichten auch die Organisatoren anderer Musikrats-Projekte.
Beispielsweise der Deutsche Orchesterwettbewerb (DOV) oder der Deutsche
Chorwettbewerb: Auch hier bewerben sich Städte als Veranstaltungsort,
auch hier müssen sie sich mit Geld- oder Sachleistungen an
der Finanzierung der Veranstaltung beteiligen. Als kleinere Städte
für diesen Wettbewerb gelten Fulda, Osnabrück, Karlsruhe
oder Goslar. An die Wettbewerbe in großen Städten wie
Stuttgart, Berlin, oder Hannover hat der Projektleiter Helmut Schubach
keine allzu guten Erinnerungen: „Wir gingen medientechnisch
unter.“ Auf die Frage, welche Nachteile er bei der Durchführung
in kleineren Städten sehe, gibt Schubach die knappe Antwort:
„Keine.“ Und nennt anschließend die bekannten
Argumente: „Die Identifikation mit der gesamten Veranstaltung
ist ungleich höher, die Wahrnehmung ist optimal. Die Laienorchester
und auch die Laienchöre bespielen praktisch alle kommunalen
Einrichtungen. Nicht zuletzt für die gastgebende Stadt ist
dies eine ideale Möglichkeit, ihre finanzielle Beteiligung
an der Veranstaltung zu dokumentieren: Am Ende unserer Wettbewerbe
bleiben zwischen 600.000 und 700.000 Euro in der Stadt.“
Sönke Lentz, Projektleiter des Bundesjugendorchesters, bringt
die Vorliebe für kleinere Städte auf die Formel: „Je
kleiner der Ort, desto erfolgreicher das Konzert.“ Denn oft,
so seine Erfahrung, gebe es in der Provinz besser laufende Konzertreihen
mit einem an der Sache interessierten Publikum. Häufig werde
dort Kammermusik gespielt. Daher verspreche das Erscheinen eines
großen Klangkörpers ein außergewöhnliches
Konzertereignis mit seltener gehörten Werken. „Eine ähnlich
gute Wahrnehmung in Städten wie Köln oder Berlin setzt
entweder einen potenten Sponsor voraus, in jedem Fall aber ein ungeheuer
aufwändiges Marketing.“, so sein Resümee.
Thomas Rabbow, Projektleiter des Deutschen Musikwettbewerbs bestätigt
die Beobachtung seines Kollegen: „Der DMW findet im jährlichen
Wechsel in Bonn und Berlin statt. Zwar sind die Räumlichkeiten
an der Universität der Künste musikgerechter als in der
Beethovenhalle in Bonn, aber in Berlin sind wir an einem Abend mit
bis zu 14 Konkurrenzkonzerten konfrontiert, während wir in
Bonn nach 25 Jahren zu den etablierten Konzertveranstaltungen gehören
und entsprechend gut besucht sind.“
Muss man also am Charakter des jeweiligen „Produkts“
feilen, um es metropolentauglicher zu machen? Soll man andererseits
die Großstädter am Kragen packen und ihnen zurufen: Eure
Kultur ist nichts als Ware, in der Provinz spielt die wahre Musik?
Sicher nicht, es wird auch nichts falsch gemacht, in Sachen Produktgestaltung
ebenso wenig wie im Konsumverhalten. Das Angebot ist, wie es ist
und irgendwann fährt jeder mal nach Berlin, München, Hamburg,
um Konzerte zu besuchen, die nur dort stattfinden. Aber ehrlich
gesagt: den warmen, wohlwollenden, stürmischen Luftzug des
Applauses, den spürt man doch am ehesten in der Provinz!