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nmz-archiv
nmz 2004/07 | Seite 9
53. Jahrgang | Juli/Aug.
Kulturpolitik
Senkrechtstart verengt die Künstlerpersönlichkeit
Der Cellovirtuose Lynn Harrell lehrt beim Meisterkurs an der
Lübecker Musikhochschule
Dreißig Minuten intelligenter Feinarbeit sind bei Harrell
das Mindeste, was eine Stolperstelle verlangt, damit sie am Ende
so klingt, wie sie soll: „quite natural“. Harrell demonstriert,
korrigiert, philosophiert. „I want a pure, clean sound –
you make too much noise“, wendet er gegen eine Passage im
Dvorák-Konzert ein. „Louder in sound, softer in texture.“
Das verstehe, erfülle gar, wer kann. Doch im Zweifel hilft
sein beständiger Rat: „Stay in the strings“ (bleib
eng an den Saiten). Und das erste Gebot: Erst denken, dann üben.
„Once you have decided, you must make it work“ (hast
du dich einmal für eine Lösung entschieden, dann musst
du zusehen, dass sie auch funktioniert).
Ein verwaister Schüler des kürzlich verstorbenen Boris
Pergamenschikow hat Schuberts Arpeggione-Sonate perfekt studiert.
Nur eine Stelle behagt dem Maestro nicht ganz. „It’s
not according to the style of Schubert’s writing.“ Leicht
geänderte Phrasierung, Bogenwechsel – und schon ist das
„Mysterium der Passage“ gerettet.
Unterrichten sei keine „one way road“, sondern ein
Geben und Nehmen, sagt Lynn Harrell hinterher. Er liebt die Arbeit
mit Studenten, obwohl die Pädagogik den kleineren Teil seines
Künstlerlebens ausmacht. „Alle zwanzig Jahre wächst
eine neue Generation mit neuem Zeitempfinden heran. Die Sinne bleiben
dieselben, doch die Wahrnehmung ändert sich. Das Rascheste,
was Mozart kannte, war die Postkutsche, das Lauteste der Gewittersturm.“
Konsequenz für den Interpreten von heute: das Allegro schneller,
das Forte lauter zu spielen.
Lehre für den Lehrer: Er sollte sich hüten, seinen Schülern
Vorstellungen seiner Generation aufzuzwingen. „Junge Leute
haben eine andere Chemie. Vor vierzig Jahren war auch ich ein Terrorist
– ästhetisch und künstlerisch. Entscheidend ist,
ob eins zum anderen passt. Auf den Geschmack kommt es an.“
Was wäre – demnach – der „wahre Endzweck“
des Cellounterrichts? „Dass das Cellospiel in Tonfall, Farbe,
Charakter und Gestus der menschlichen Sprache so nahe kommt wie
möglich.“ Der Hörer habe einen Anspruch zu erfahren,
welche Affekte der Komponist schildern wollte (Barock), wie ihm
in der Welt zumute war (Romantik) oder welche Erfahrungen er mit
und an seinem Material machte (Moderne) – vermittelt, „gebrochen“
durch die Persönlichkeit des Interpreten.
Und welche Eigenschaften müsste ein junger Musiker besitzen,
um auf den Parnass zu gelangen? „Demut, Disziplin, Ehrlichkeit,
Integrität.“ Demut empfinden vor dem Werk und seinem
Schöpfer. Disziplin üben gegen sich, ehrlich sein mit
sich selbst. Nicht mogeln! „Und andere nicht ausstechen wollen.
Friedlicher Wettstreit, ja. Den ‚Gegner’ besiegen wollen
wie im Sport, nein. Die Verwundbarkeit des anderen auszunutzen –
das wäre der Ruin des Künstlertums.“
Das alles klingt eher europäisch-kultiviert als wildwestlich.
Tatsächlich preist Lynn Harrell, 1944 „outside of New
York“ geboren, immer wieder seine Verbindungsfäden zur
Alten Welt. Sein Vater Mack Harrell, anfangs Geiger, später
Bariton an der Met, hatte mit Bruno Walter und Toscanini musiziert,
Bergs Wozzeck und Strawinskys Nick Shadow gesungen und Schönbergs
Ode an Napoleon deklamiert, bevor die Familie in die Geburtsstadt
des Vaters heimkehrte: Dallas in Texas. Dort fand Sohn Lynn seinen
ersten großen Cellolehrer: Leo Aronson, ein Emigrant aus Lettland,
der im Berlin der zwanziger Jahre – „the Central Park
of European culture at that time“ – bei Gregor Piatigorsky
studiert hatte, bevor er fünf KZ-Jahre knapp überlebte.
Als Lynns Vater 1960 an Krebs starb und seine Mutter, eine Geigerin,
ein Jahr später durch einen Autounfall ums Leben kam, wurden
ihm die New Yorker Juillard School (Leonard Rose) und das Curtis
Institute in Philadelphia, Meisterkurse mit Piatigorsky und Pablo
Casals, vor allem dann aber das Cleveland Orchestra unter George
Szell zum Lebensquell und zur künstlerischen Heimat. Harrell
wird nicht müde hervorzuheben, wie wichtig ihm diese acht Orchesterjahre
waren und heute noch sind: Ihnen verdanke er seine „wahre
musikalische Ausbildung“: Kenntnis aller bedeutenden Orchesterpartituren
und Orchesterlieder, der Cellostimme im sinfonischen Gewebe, Stilgefühl,
Atmen mit dem Dirigenten und vieles mehr. Alle großen Cellisten
„bis zu Jacqueline du Pré“ hätten im Orchester
gesessen, bevor sie ihre Solokarriere schmiedeten. „Der Senkrechtstart
vieler Wettbewerbsgewinner von heute verengt die Künstlerpersönlichkeit.“