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nmz-archiv
nmz 2004/07 | Seite 1
53. Jahrgang | Juli/Aug.
Leitartikel
Auch der Fußball ist nicht mehr richtig rund
Was bedeutet das Versagen der Nationalmannschaft für die
Musik? · Von Gerhard Rohde
Die blamable Vorstellung der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft
bei der Europameisterschaft in Portugal hat nach den professionellen
Sportkommentatoren auch die Gesellschaftsanalytiker und Tiefenpsychologen
zu vielfältigen Deutungen – wie konnte das geschehen?
– animiert. Der Blick zurück in die Historie half dabei.
Wie war das noch 1954, als „wir“ überraschend Fußballweltmeister
wurden? Deutschland war im Begriff, Krieg und Trümmer zu vergessen.
Das Wirtschaftswunderland lockte verführerisch, Aufbruchstimmung
durchpulste die Menschen, dazu passte vorzüglich der Welttitel
im deutschen Lieblingssport, dem Fußball. Getragen von dieser
Woge aus Dynamik und Optimismus brauchte Helmut Rahn nur noch den
finalen Superschuss abzufeuern: Wie einst Münchhausen auf der
Kanonenkugel ritt die ganze Nation auf dem runden Leder mit in ein
neues, gestärktes Selbstbewusstsein.
War dieses gegenseitig sich befeuernde Wechselspiel zwischen Sport
und nationaler Befindlichkeit Zufall oder könnte man darin
System vermuten? Wie war es denn zwei Jahrzehnte später, anno
1974, als Helmut Schön und seine Mannen Sepp Herbergers Berner
Kunststück wiederholten? Die so genannte 68er-Generation durchpulste
wiederum eine im Wirtschaftswunderfett sich müde räkelnde
Sozietät, und Willy Brandt schaute nach Osten, von Versöhnung
und Wiedervereinigung träumend. Das Land war in Bewegung geraten.
Und eine solche Beweglichkeit bescherte den deutschen Fußballern
dann auch 1990 den dritten Welttitel, beflügelt von der überraschenden
Wiedervereinigung der Nation.
Wer in diesen scheinbaren Zufälligkeiten ein System erblicken
möchte, geheimnisvolle Wechselbeziehungen und tiefenpsychologische
Koinzidenzen, den kann das Abschneiden der deutschen Kicker in Portugal
nicht weiter überraschen. Wie das Land und seine Bewohner,
so der einheimische Fußball. Die Adjektive dazu darf jeder
für sich selbst hinzufügen. Etwas ist faul im Staate Deutschland,
und nicht nur etwas, sondern reichlich viel. Shakespeares Dänemark,
einst vom Dichter als verfault bezeichnet, wirkt daneben, zumindest
im Fußball, wie ein Jungbrunnen. Gibt es für uns also
nichts zu hoffen? Zwei Punkte, kein Sieg, Klappe! Aus!
„Was bleibet aber, stiften die Dichter“, sagte einst
Hölderlin. Hilft das vielleicht in unserer gegenwärtigen
Situation weiter? Wenn schon der Fußball der gedrückten
Miesepeterstimmung im Lande nicht mehr aufzuhelfen vermag, existiert
nicht doch etwas, worauf wir noch bauen können? Eine Art Lebenshilfe,
die wie eine Vitalitätsspritze zu wirken vermöchte? Für
Musikfreunde ist die Antwort einfach: natürlich, die Musik.
In der Musik spielt Deutschland unverändert an der Weltspitze
mit, wenn sie nicht überhaupt dieselbe markiert.
Mehr als fünf Dutzend Operntheater, ein Dutzend Rundfunksinfonieorchester,
in jeder größeren Stadt ein ausgewachsenes philharmonisches
Ensemble mit den „Berlinern“ ganz oben, hochqualifizierte
Spezialensembles für Alte und Neue Musik, dazu immer noch mehr
große Konzerthäuser mit eigenen ehrgeizigen Programmen
wie Kölner Philharmonie oder Alte Oper Frankfurt.
Das Musikland Deutschland, zu dem auch die vielgestaltige Szene
der U-Musik zählt, ist wirklich das, was einmal ein Bundeskanzler
für die neuen Länder im Osten, leider nur visionär,
beschwor: eine „blühende Landschaft“. Aber, und
das darf nicht unerwähnt bleiben: auch in der deutschen Musiklandschaft
finden sich oft hässliche Flecken, wo man bedrohliche Erosionen
konstatieren muss. Ein florierendes Musikleben besteht nicht nur
aus Opernpremieren und philharmonischen Konzerten. Zu einem solchen
„blühenden“ Musikleben gehören vor allem die
Dinge, über die in den Feuilletons nichts zu lesen ist. Immerhin
hat ja der scheidende Bundespräsident in den letzten Jahren
immer häufiger auf die Defizite im schulischen Musikunterricht,
auf die wachsenden Existenzsorgen der Musikschulen, insgesamt auf
die Wichtigkeit einer musisch geprägten Bildung hingewiesen.
Schlimmer als die Löcher im Haushalt des Finanzministers könnten
eines nicht allzu fernen Tages die Defizite im Seelenhaushalt der
Menschen sein. Noch ist es nicht soweit. Noch trägt die gewachsene
Substanz unseres Musiklebens über manche Widrigkeiten vor allem
ökonomischer Art hinweg. Der deutsche Fußball aber darf
als Menetekel begriffen werden: Wer sich gewissen negativen gesellschaftlichen
Entwicklungen allzu bequem andient, wird unweigerlich mit in den
Abstiegsstrudel gezogen. Sepp Herbergers Ball ist nicht länger
prall und rund, sondern schlapp und luftleer. Das deutsche Musikleben
aber hat die Aufgabe, sich dem gegenwärtigen allgemeinen Schlamassel
couragiert und ohne zu ermüden entgegenzustellen; Tag für
Tag und nicht nur neunzig Minuten. Was bleibet aber, stiften die
Dichter, Komponisten, Künstler. Vielleicht könnte das
auch unserem Fußball helfen, wenn seine Protagonisten ihre
Tätigkeit wieder mehr als „Kunst“, als Fußballkunst
begriffen. Zur Kunst aber benötigt man vor allem Phantasie.
Lieber also mal ein gutes Buch lesen, eine gute Musik hören
, ein gutes Bild betrachten als zum nächsten Werbetermin zu
jetten. Das gilt nicht nur für Fußballer, sondern für
alle.