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Ausgabe 2004/07
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nmz 2004/07 | Seite 4-5
53. Jahrgang | Juli/Aug.
Magazin

Das Verschwinden des linearen Geschehens

Über die diesjährige 9. Münchener Musiktheaterbiennale · Von Reinhard Schulz

In der schwierigen Situation des Münchner (Kultur-)Haushalts erwies sich die 8. Biennale von 2002 leider als wenig förderlich, den Sinn der Unternehmung auch den stureren Köpfen der Stadtverwaltung klar zu machen. Denn damals musste man auch eine wohlmeinende Kritik zugeben, dass mit großem technischen Aufwand nur ein halbwegs befriedigendes und zwei mehr oder weniger misslungene Resultate eingebracht worden waren. Nun gehört Mut zum Risiko, Mut zum Scheitern fraglos zu den Grundprämissen der Biennale (gäbe es sie nicht, wäre Mittelmaß und damit grundsätzliches Verfehlen der Absichten das Ergebnis), aber etwas mehr Absicherung durch eine qualitative Planung ist fraglos wünschenswert.

Gedankenoper – Brian Ferneyhoughs „Shadowtime“. Alle Fotos Biennale: Regine Koerner

In der 9. Biennale hat Peter Ruzicka, der in München auch die kommenden Jahre weiter machen will (finanziell gesichert ist nur die Biennale 2006, für danach gibt es Zusagen unter Vorbehalten), diese Vorgaben auf beachtliche Weise erfüllt. Mit fünf Opernwerken wurde in München ein Spektrum musiktheatraler Ansätze aufgeblättert, jede Arbeit für sich wusste zumindest teilweise zu überzeugen. Der Österreicher Johannes Maria Staud (1974), der Chinese Qu Xiao-song (1952), der Franzose Marc André (1964), der Litauer Vykintas Baltakas (1972) und die lang erwartete erste Oper des Briten Brian Ferneyhough (1943) gaben einen beachtlichen Aufriss heutiger musikdramatischer Denkansätze in stilistischer wie ästhetischer Bandbreite.

Nicht selten wird die Biennale missverstanden als Geburtsstätte neuer Opernwerke, die dann nach einem Ausleseprozess ins Repertoire der größeren Häuser wandern. Das ist sie nicht, auch nicht Durchlauferhitzer für hoffnungsvollen Opernnachwuchs. In erster Linie ist sie Laboratorium neuer musikdramatischer Ansätze, sie ist das weltweit größte, sie will es sein und sie soll es bleiben. Die Resonanz war groß, wobei die Streuwirkung (dies im Hinblick auf kommende Finanzierungsdebatten) sogar immer etwas übersehen wird. Die Biennale ist auch Messe, Austausch unter Theaterfachleuten. Ergebnisse, ob sie nun das Verhältnis von Musik und Text oder spezifische Regieansätze oder vieles andere betreffen, werden von hier in die Opernhäuser der Welt getragen. „Die Kunst ist eines der letzten Mittel, uns selbst realistisch ins Auge zu schauen. Verfehlen wir auch dies, dann freilich bleibt uns nur das Verschwinden“, äußerte Brian Ferneyhough im Zusammenhang mit seiner Oper „Shadowtime“ in einem Interview. Dieser Satz ist Auftrag, künstlerisches Tun am Leben zu erhalten. Das geschieht nicht in den Häusern der Konservierung, sondern an Stätten, die sich das Wagnis verschreiben. Eine Tendenz verfestigte sich bei der jetzigen Biennale gerade in den stärksten Arbeiten: weg von linearer Handlung, weg vom erzählenden Musiktheater.

Oper als statischer Denkraum – Qu Xiao-songs „Versuchung“

Johannes Maria Staud hatte sich zusammen mit dem Autor Durs Grünbein einem Poe-Text zugewandt. Es war eine schwergewichtige Vorlage. Edgar Allan Poes Geschichte „Berenice“ führt vor, wie die scheinbar klare Logik der (Selbst-)Beobachtung immer mehr in Zonen des Fragilen bis zum letztendlichen Entsetzen driftet. Mehrere Topoi greifen ineinander, die schöne, dem Tod geweihte junge Frau, die Lust der voyeuristischen, sowohl objektiven wie emotionsbetonten Betrachtung, das Herausbrechen der Zähne aus der Leiche, die für Egäus nach einem letzten Lächeln Berenices zum manischen Fixpunkt wurden.

Daraus eine Oper zu machen, die nicht nur abstrakt mit den Bildern, mit den unterschiedlichen Zonen des Grauens spielt, sondern Musiktheater in alte Rechte setzt (die Unschuld der Oper, so Staud), ist ein heikles Unterfangen. Musikalisch hat sich Staud gegenüber seinen früheren Werken erstaunlich geöffnet. Er näherte sich, vornehmlich in den Gesängen der Berenice, Zonen der Unterhaltungsmusik wie dem Tango oder den Stilistika von Blues und Jazz. Sie waren nicht in postmodernistischem Sinne einer musiksprachlichen Collage eingesetzt, sondern fungierten als laszive, weiche Masse der unmittelbaren Anziehung, des äußeren sinnlichen Reizes, so wie das blühende Mädchen Berenice zu Beginn auf Egäus wirkte. Aber der Klang der musikalischen Sprache wandelte sich, nahm schwindsüchtige oder bohrend sich festfressende Formen an wie ein Seismogramm der Krankenbilder von Berenice aber auch von Egäus, der immer mehr in den Autismus treibt. Die Geräusche von Metallbearbeitung, Schleifen oder Fräsen, unterminierten zunehmend die Musik, unangenehm wie Schmerz, der nicht mehr zu verdrängen ist und immer wütender sich meldet. Dieses Verschieben der klanglichen Intensitäten war fein und genau ausgehört und durchkonzipiert: bis hin, wo die Musik den Boden unter den Füßen verliert, hohl und töpfern wird und immer mehr im Netz zu zappeln scheint.

Oper in „alter Unschuld“ – Johannes Maria Stauds „Berenice“

Freilich scheiterten Librettist und Komponist am Zentralpunkt von Poes Erzählkunst: Durch Kälte der Beobachtung und scheinbare Objektivität wird der Leser in immer irrealere Zonen getrieben. Lösungsversuche, wie etwa die Idee, Poe (als Autofahrer) selbst auf die Bühne zu bringen, wirkten gegenüber der kein Entkommen zulassenden Konsequenzlogik unbeholfen. Staud und Grünbein entwarfen eine Nummernoper, wobei die einzelnen 27 Szenen wie im Filmschnittverfahren sich gegenseitig kommentierend zusammen fügen sollten. Die Unbedingtheit des Vorantreibens, in der jeder Satz Poes wie in einem Einkesselungsverfahren eine neue Mauer aufbaut, wurde dadurch allzu oft in Regionen des Spannungsabfalls überführt. So wurde das wachsende Grauen an den Klippen und Untiefen der menschlichen Seele mitunter mehr erzählt oder abgegriffen, als wirklich verdichtet.

Von ganz anderen Voraussetzungen ging Qu Xiao-song in seiner Oper „Versuchung“ aus: wie bei Staud freilich liegt noch eine konkret erzählbare Handlung zugrunde, die Xiao-song dem reichen Schatz der traditionellen chinesischen Oper entnahm. Doch ging es, von dieser Handlung abgehoben (eine Frau wird auf Treue getestet, indem ihr Mann, der Philosoph Zhuang zum Schein stirbt und ihr weiteres Verhalten beobachtet), im Wesentlichen um taoistische Denkformen. Es geht um die Erkenntnis, dass man umso unfreier sei, je mehr man begehrt, aber auch die Verdrehung des Testes: Zhuang wollte seine Frau prüfen, letztlich aber prüfte er sich selbst und seine Philosophie. Zum Schluss lernt er den tieferen Sinn des natürlichen Ganges akzeptieren. Die Musik war fein und eindringlich subtil durchgehört, erlaubte sich lange Stillezonen dann wieder einzelne, im Raum hängende Klänge als Mischung von chinesischem und europäischem Instrumentarium. Dazu korrespondierte eine durchweg statuarische Personenführung. Musiktheater als Denkraum, als Begreifen über Anschauung und Zuhören.
So erwies sich Marc Andrés „...22,13...“ ganz in diesem Sinne als Andacht oder Gedenkfeier. Zwei inhaltliche Vorgaben lagen zu Grunde: die Niederlage des Schachweltmeisters Gary Kasparow gegen den Computer Deep Blue (auch die des Kreuzritters beim Spiel gegen den Tod in Ingmar Bergmanns Film „Das siebente Siegel“) und ein Phantomzug, der in quälenden 57 Tagen französische Gefangene von Toulouse in das Konzentrationslager Dachau transportierte. Geflüstert eingesprochen wurden Zitate aus der Offenbarung des Johannes, endzeitliche Visionen drangen von allen Seiten auf den Hörer ein.

Oper als Panoptikum – „Cantio“ von Vykintas Baltakas

Oper als Besinnungsritual. Kasparows Niederlage (menschlicher Geist kontra Maschine) markierte für André einen anthropologischen Wendepunkt. Die anderen Bilder kündeten von Endzeit. Die Sparsamkeit der Mittel, die lastende Wiederkehr von auf wenige Grundmaterialien beschränkten Klangmomenten dienten allein der betroffenen Hinlenkung, der verdichteten Konzentration des Hörers, der im Vernehmen der drei Mal letzten Dinge („...das O..., ...der Letzte..., ...das Ende..., – so waren die drei ineinander verfließenden Teile überschrieben) seinen Blick ins Innere richten sollte. Im letzten Teil verschwand die Musik kontinuierlich, sie erstarb in wenigen, geröchelten Klängen, die der totalen Stille immer mehr Platz einräumten. Die Musik selbst schien unter einer eisernen Lunge zu liegen, die mechanisch am Leben hielt, was schon längst aufgegeben war. Der definitive Schluss des Stücks war nicht auszumachen, er war Übergang.

Stark die Phantasie der Bilder, die Regisseur Georges Delnon entwarf. Es war ein Kreuzweg der Menschheit, eine drastische Versammlung von Gesten der Unterdrückung, des Elends, des Leids im Tempo von Zeitlupen. Eine nackte Leiche wird über die Bühne geschleppt, eine Frau übergibt sich, Gruppen werden wie zur Hinrichtung aufgestellt, eine lächelnde Kasparow-Maske stürzt zu Boden: die Oper als Bilderbuch mit Ecce-homo-Motiven.

Hier munterte das Stück „Cantio“ von Vykintas Baltakas auf. Auch hier gab es eine durchaus endzeitliche Basis: Die Götter haben die Menschheit, die in einem würfelförmigen Steckkasten herumwuselt, verlassen. Die Menschen wollen sie durch Sprechen zurückhalten, am Schluss wandelt sich die Sprache in Gesang. Sind die Götter noch da? Am Ende der Welt jedenfalls klingt die Musik wunderschön. Baltakas ist eine enorme Begabung; er weiß genau, was er will, was er musikalisch verantworten kann. Und er beugt sich keiner Konvention. Die Oper wurde zum bunten Treiben gesellschaftlicher Irrwitzigkeiten, Hure, Weiser, Seherin, Schelm oder was auch immer bewegen sich in sinnig-unsinnigen Dialogen, Sprachrhythmen und verhetzt ineinander geschnittene Satzfetzen dominieren die musikalische Kontur am Anfang des Stücks, am Schluss bleibt der ätherisch abgeklärte Gesang, eine Trompete von Miles Davies „am Ende der Welt“. Musiktheater als Wirbeltreiben mit kongenialer Regie von Oskaras Koršunovas.

Oper als Andacht – Marc Andrés „…22,13…“

Es war wohl mit Bedacht so angeordnet: Brian Ferneyhougs Oper „Shadowtime“ beendete die Biennale und sollte auch ein Resümee ziehen. Anhand der Person Walter Benjamins (ein „Archivist des urbanen Denkens“, so Ferneyhough), der sich im September 1940 auf der Flucht vor den Faschisten das Leben nahm, wurde gleichsam eine Befragung in sieben Szenen durchgeführt. Die Musik selbst verwandelte sich in jeder Szene, sie war Kammerkonzert, Chorkonzert, Ein-Mann-Theater, Stilcollage, Requiem. Ferneyhough schuf ein zeitphilosophisches Panoptikum über die Art, wie wir mit der Person Walter Benjamins umgehen. Die Bühne wurde zum Gedankenraum, der beliebig zwischen den Zeiten und den Prämissen menschlicher Existenz springt – als Gedankenoper ganz im Sinne des Jesuitentheaters im 18. Jahrhundert. Es wurde ein hochaufgeladenes, auch formal komplexes Stück, das neue Seiten von Ferneyhough offenbarte: musikalische Annäherung an Geste und Charakter und auch eine britisch geprägte Form von Humor (etwa in der vierten Szene, in der der Pianist mit dem harmonieverliebten Klavier spricht). Es war ein hochbedeutendes, etappensetzendes Musiktheaterwerk. Viele Tendenzen und trotzdem ließen sich gemeinsame Tendenzen festschreiben, worüber innerhalb der Musiktheaterarbeit heute diskutiert wird. Hier ist vor allem darauf zu verweisen, dass die lineare Erzählung, wie sie die Oper über gut drei Jahrhunderte dominierte, mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wird. Die Handlung verschwindet hinter Bildern, Assoziationen, gedanklichen oder philosophischen Zusammenhängen. Dies geschieht nicht aus einer modischen Laune heraus, sondern ist Konsequenz einer sowohl musiksprachlichen wie rezeptiven Entwicklung, in der der Transport eines Handlungsgeschehens immer mehr zu zeitgestalterischen Disproportionen führte.

Reinhard Schulz

 

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