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nmz-archiv
nmz 2004/07 | Seite 42
53. Jahrgang | Juli/Aug.
Bücher
Wie dumm kann man eigentlich sein?
Journalist und Junkie: Jörg Böckems Lebensbeichte
Jörg Böckem: Lass mich die Nacht überleben, Deutsche
Verlags Anstalt, e 17,90 Euro, ISBN 3-421-05775-3
Seit Wochen hält sich Jörg Böckem mit seiner Teilbiografie
und Doppel- Lebensbeichte in den aussagekräftigen Buchverkaufslisten
der Nation. Der Journalist und Junkie, wie er sich im Untertitel
selbst beschreibt, geht schonungslos mit sich und seiner Drogensucht
ins Gericht. Heroinspritzen auf der Toilette während die Kollegen
in der SPIEGEL Redaktion warten. Pauschalist für verschiedene
Magazine (unter anderem Tempo, Die Zeit) zwischen Abhängigkeit
und Entzug. Mensch mit höchst literarischen Ergüssen,
dann wieder Unmensch mit niederem Motiv: Woher kommt die Kohle für
den nächsten Schuss. Jörg Böckem ist bei der Schilderung
seiner Lebens-Sucht nicht zimperlich. Beginnend in der Jugend versucht
er früh Gründe für seine latente Suchtgefahr zu entdecken.
Ohne Erfolg. Trotz Entzugstherapien, Klinikaufenthalten und Gefängnis
schaffte er den Absprung nicht. Dennoch gelingt ihm stets eins:
Selbst im größten Drogenwahn bleibt er Journalist, schreibt
Texte, die er pünktlich abliefert und hält seine Sucht
vor Kollegen geheim. Sein Doppelleben zwischen Junkie und Journalist
erreicht sogar einen zynischen Höhepunkt: Jörg Böckem
interviewt nicht ohne sich vorher noch einen Schuss zu setzen den
ex-heroinabhängigen Iggy Pop.
Dass das alles irgendwann tragisch endet und nur mit Glück
untödlich, stellt Jörg Böckem erst fest, als er seine
Lebensgefährtin im Drogenrausch fast zu Tode würgt.
Eine weitere der vielen Stellen des Buches, an denen man sich –
vorsichtig formuliert – bei einer stillen Bewunderung für
Jörg Böckem ertappt, obwohl dieses Leben, das nie weit
von der Überdosis entfernt ist, kein Leben zu sein scheint.
Bewunderung, weil er von einem Leben erzählt, das subkultureller
nicht sein könnte, das unkonventionell anmutet, dass Freiheit
suggeriert aber letztendlich nur ein Gefängnis aus Sucht und
Doppelleben darstellt. Bewunderung ferner, weil es schier unvorstellbar
ist, das Jörg Böckem bei all den Lebensumständen
und Entzug- beziehungsweise Suchtqualen noch halbwegs arbeiten konnte,
überhaupt: denken konnte. Jörg Böckem schleift den
Leser durch Gefühlszustände, die sich von ekelhaft bis
wunderbar erstrecken. Von Momenten, in den man hektisch weiter blättert
und ihm helfen möchte, zum Leben zurück zu finden, zehn
Seiten weiter aber erneut mitten im Suchtsumpf steckt. Und dabei
ständig rufen möchte: „Wie dumm kann man eigentlich
sein, Böckem?“
Ein Buch, das in die eigene Psyche führen kann, das nicht
auf Effekthascherei setzt und Jörg Böckems durchaus respektable
Karriere als Musikjournalist in den Mittelpunkt stellt. Zudem findet
Böckem eine interessante Balance zwischen der Beziehung Autor/Leser:
Abneigung und Hingabe, Mitleid und Unverständnis, Sorge und
Belanglosigkeit, Trauer und Freude. Jörg Böckem ist seit
drei Jahren clean.