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nmz-archiv
nmz 2004/07 | Seite 41
53. Jahrgang | Juli/Aug.
Bücher
Der Großtyrann und sein Komponist
Solomon Wolkows Studie über das ungleiche Duell zwischen
Stalin und Schostakowitsch
Solomon Wolkow: Stalin und Schostakowitsch. Der Diktator und der
Künstler, aus dem Amerikanischen von Klaus-Dieter Schmidt,
Berlin, Propyläen Verlag 2003, 462 S., Abb., € 29,00,
ISBN 3-549-07211-2
Wer kennt schon Wano Muradeli und seine Oper „Die große
Freundschaft“? Längst wurde sie, ihrer Güte gemäß,
im Mülleimer der Geschichte entsorgt. Am 11. Februar 1948 jedoch
wurde sie in der „Prawda“ ausdrücklich gerühmt.
Im selben Artikel wurden die Vertreter der „formalistischen,
volksfremden Richtung“ an den Pranger gestellt. Schostakowitsch,
Prokofjew und Chatchaturjan führten diese Liste an. In der
Sowjetunion besaßen solche Listen rituelle Bedeutung. Sie
signalisierten, wer um Stalins Gunst fürchten musste. Eine
Art Hit-Ranking der politisch verdächtigen Komponisten.
Stalin überwachte alles. Wehe dem, der – wenn auch
nur marginal – von der vorgegebenen Staatslinie abwich. Unter
den russischen Komponisten hatte Schostakowitsch, neben Prokofjew,
wohl am meisten unter dem Willen des Staatsdespoten zu leiden; erstens
weil Stalin genau wusste, wie begabt Schostakowitsch und wie wichtig
er als Aushängeschild gegenüber dem feindlichen Westen
war; zweitens weil Schostakowitsch sich in einer tragischen Zwickmühle
befand: er war gewieft genug, um nach außen dem Tyrannen Gehorsam
zu leisten, während er sich ihm nach innen (und teilweise auch
in seiner Musik) verweigerte. Ein Schritt zu weit, und Schostakowitsch
und seine Familie hätten dafür mit dem Leben zahlen müssen.
1936 wäre es fast zum großen Knall gekommen. Stalin hatte
sich in eine Aufführung der „Lady Macbeth von Minsk“
begeben. Warum eigentlich erst jetzt? Denn die Oper hatte bereits
einen zweijährigen Siegeszug durch etliche Städte hinter
sich. Das hatte wohl Stalins Neugierde geweckt – und sein
Misstrauen. Kurioserweise genau zwei Tage, nachdem Stalin die Oper
gesehen hatte, erschien in der „Prawda“ ein brandmarkender
Artikel. Da ist von „Chaos statt Musik“ die Rede, woran
vor allem die „betont disharmonische, chaotische Flut von
Tönen“ Schuld trage. Das ganze Werk sei „Gepolter,
Geprassel und Gekreisch“ – ein vernichtendes Urteil.
Der Verfasser dieser Zeilen gibt sich indes nicht zu erkennen, ein
Zeichen dafür, dass dieser Artikel im Namen der gesamten Partei
erschien.
Solomon Wolkow behauptet in seinem neuen, soeben aus dem Amerikanischen
übersetzten Buch „Stalin und Schostakowitsch“,
Stalin selbst habe diesen Artikel verfasst, ihn zumindest diktiert.
Dafür sammelt Wolkow glaubwürdige Indizien. Vor allem
die häufigen Wiederholungen einzelner Vokabeln – eines
der von Stalin bevorzugten rhetorischen Mittel – nähren
diesen Verdacht. Bezeichnend für dieses neue Buch ist die Umsicht,
mit der sein Verfasser etliche, bis in die Gegenwart reichende Untersuchungen
ausgewertet hat. Glaubwürdigkeit resultiert aber auch aus seiner
eigenen Biographie. Wolkow hat die Repressalien der sowjetischen
Diktatur selbst noch erfahren müssen, zudem stand er in Kontakt
mit Schostakowitsch und anderen Musikern der Zeit. Sein Buch ist
also auch persönliches Zeitzeugnis – allerdings nicht
im Sinne einer durch zu viel Subjektivität gefährdeten
Auslegung. Lediglich an Stellen, wo die reichhaltige Faktenlage
sich letztgültigen Angaben verweigert, wo aus heutiger Sicht
Grenzen der Beweisbarkeit erreicht sind, nutzt Wolkow persönliche
Erfahrungen für seine Argumentation. Dabei bleibt er stets
vorsichtig. Mit Formulierungen wie „Ich neige zu der Ansicht“
oder „dürfte gewusst haben“ unterstreicht er, dass
ein Absolutheitsanspruch nicht einzulösen ist. Gleichzeitig
liefert Wolkow ein entlarvendes, bedrückendes Dokument über
ein bislang oft tabuisiertes Verhältnis zwischen Politik und
Kunst, das ungleiche Duell zwischen Macht und Musik.
Wolkow zeigt uns auch den eher unbekannten Schostakowitsch, der
zur Beschwichtigung des Tyrannen offizielle Fest- und Filmmusiken
schrieb. In diesem für Stalin so wichtigen Genre konnte Schostakowitsch
komponieren, ohne sich sonderlich verbiegen zu müssen. Dadurch
gelang es ihm, Stalin, den Verfechter einfacher, volksnaher Melodien,
zufrieden zu stellen. In seinen Sinfonien jedoch nutzte er eine
subtile, widerstandsreiche Technik von Anspielungen. Am Ende des
Finales seiner Vierten etwa zitiert Schostakowitsch das „Gloria“
aus Strawinskys „Oedipus Rex“. Wolkow dazu: „Und
wie lautet der Text dieser Episode? ,Gloria! Wir rühmen Jokaste
im pestverseuchten Theben.’ Mit anderen Worten, Schostakowitsch
zog eine Parallele zwischen der damaligen Sowjetunion und der von
der Pest heimgesuchten Stadt aus der griechischen Sage. Nach Schostakowitschs
Verständnis war Stalins Herrschaft ein ,Gelage während
der Pest’.“
Wolkow erklärt zwar zentrale Stellen in Schostakowitschs
Werken, doch er lässt sich nicht auf musikwissenschaftliche
Feinanalysen ein. Ihm geht es vielmehr darum, den Menschen Schostakowitsch
darzustellen als jemanden, der sich zeitlebens einem irrationalen
Wechselbad ausgesetzt sah: von Schmähungen und Bedrohungen
auf der einen und von höchsten staatlichen Ehrungen auf der
anderen Seite, von Distanz hier und erzwungener Nähe zum Diktator
dort. Ein bedrückendes, wahrhaftiges Buch mit dem berechtigten
Anspruch, eines der bedeutenden kulturgeschichtlichen Phänomene
des 20. Jahrhunderts aufgearbeitet zu haben.