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nmz-archiv
nmz 2004/07 | Seite 39
53. Jahrgang | Juli/Aug.
Rezensionen
Momentaufnahmen zum Monument geeignet
Neuerscheinungen aus dem Rock- und Pop-Bereich
Die Phonoindustrie schlägt Furcht erregend zurück: Fast
pensionierte Lehrer werden als illegale Downloader enttarnt und
Azubis zu drakonischen Strafen von 8.000 Euro verurteilt während
in Tschechien raubkopierte CDs für einen Euro verramscht werden.
Über diese Halbherzigkeit der Verfolgung hilft nur die soulige
Best-of-Veröffentlichung von Candi Staton mit gleichem Titel
hinweg. Einst 1976 mit „Young Hearts Run Free“ erfolgreich,
tröstet sie mit 26 Songs im Motown-Sound über verpasste
Sommerfreuden ihrer vom Alkohol zerstörten Karriere hinweg.
Unterstützenswert. Kaum Soul dafür Seele bieten The Blueskins
mit „World of Mouth“. Im Rotzlöffel-Stil zitieren
sie Vorbilder aus Country, Blues, Rock und Beat. Rasierklingen im
Hals, Stahlstifte an den Fingern und dolchstoßige Rhythmusarbeit
ergeben ein braves aber anstößiges Album mit Charakter.
Orthodox dagegen die Wiederveröffentlichung der LP „Lupa“
der ehemaligen NDW-Band Palais Schaumburg. Der zerstrittene Haufen
mit einem umstrittenen Werk, das einst in den USA viel Anklang fand.
Herzerwärmend und unverzichtbar diesen Sommer ist Toni Kater.
Das Debutalbum „Gegen die Zeit“ der Berlinerin verstrahlt
Glanz mit deutschen Texten und Ruhm mit pop-rockiger aber alternativ-trauriger
Musik. Eine glasklare Großstadtplatte zum Loslassen. Wunderbar!
Düstere Schwaden schweben über John Frusciante (Red Hot
Chili Peppers). In jedem Monat dieses Jahres hat er ein Album aufgenommen.
Sechs Alben sollen demnächst erscheinen. „The Will To
Death“ mit fransigen Songs, scheinbar ohne Muster aber mit
rotem Faden ist das zweite 2004. Verwirrend. Auch weil Frusciante
alle Instrumente einspielte und dieses paranoide Gefühl auf
den Hörer überträgt. Fröhlichkeit ist sein Ding
nicht. Zerstörerisch, wütend und doch so anschmiegsam.
WILCO, die Mutter aller US-Indie Bands, finden sich übrigens
ein paar Mal in Frusciantes Songs. Mit „A Ghost is born“
setzen sich Wilco ein Denkmal. Pianotupfer flankieren den einzig
als fragil zu bezeichnenden Gesang dieser Erde, denn Jeff Tweedys
Stimme ist so traurig, dass man weinen muss. Stundenlang. Gerade
weil Wilco kaum unterscheiden, ob Discobeat zur Akustikgitarre passt,
Country auf Rock folgt oder ausufernde Klangspielereien unmotivierte
Bässe treffen, ist ihr viertes Album ähnlich spannend
wie die drei zuvor. Die wirkliche Weite der amerikanischen Musik.
H-Blockx, die ex-Helden der europäischen Crossover-Szene sind
mit neuer Musik, anderer Band und dem Album „No Excuses“
zurück. Kein Rap, kein Crossover, nur Rockmusik, leicht chartorientiert
aber prügelhart. Der echte Hit fehlt. Gott sei Dank, denn die
Welt braucht Alben, keine Ohrwürmer. Die hat auch Sivert Hoyem
im Positiven nicht zu bieten. Der Sänger der norwegischen Band
Madrugada schwelgt in seinem ersten Soloalbum „Ladies &
Gentlemen of the Opposition“ zwischen nördlicher Folklore
und Trinkladen- Blues. Manchmal imposant, weil sich seine Fähigkeiten
als Songkonstrukteur feinmaschig im Song ausbreiten, dann verliert
er bisweilen die Contenance und macht – was ihm nicht so steht
– im zarten Alter von 25 Jahren auf erfahrenen Songwriter.
Hörenswert allemal. New Found Glory sind im Vergleich zu Höyem
eher als Wüstlinge einzustufen. Emo-Punk im US- Stil zwischen
der Frechheit von Blink 182 und der Reife erwachsener Green Day.
Melodien ohne Pathos, Musik ohne Schwierigkeitsgrad und eine Zielgruppe
bis 23. Für die jugendliche Sommer-Romanze ohne Verpflichtung.
Oder die Erstsemesterfeier.
In Berlin nahm der New Yorker Überraschungs-Songwriter der
letzten Jahre, David Poe, sein Album „Love is Red“ auf.
Eine mutige Partie zwischen Jazz, Blues, Folk, Songwriting und Epik.
Begleitet von Sim Cain und John Abbey rudert das Trio im Gefühlsstrudel
der Musik lebenden Musiker und zaubert zehn Songs voll Anmut und
Anständigkeit ins Ohr. Als Momentaufnahme gedacht, zum Monument
geeignet. The Datsuns, Anhänger des Garagensounds, scheinen
mit „Outta Sight/Outta Mind“ endlich zu sich selbst
gefunden zu haben. Weniger Garagensound, dafür mehr Gitarrenriffs
und etwas mehr Spielhumor machen das Album zu einem guten unter
der Menge der „The“-Band-Alben. Retro ohne Reue. Elektronisch
sauber und für den lauen Sommerabend passend präsentieren
sich Plastyc Buddha aus Antwerpen. Chill-Out-Lounge-Musik mit Liebe
zum Detail und großartigen Melodien. Elektronik-Fummeleien
mit Tiefgang. Selbst im Bassbereich. Sonic-Youth-Fans werden sich
über das neue Album „Sonic Nurse“ glücklich
sein, weil SY wieder nah an den Anfängen anno 1981 in New York
City sind. Weniger Indie scheint kaum möglich. Der junge Jazzpianist
Michael Kaeshammer offenbart mit „Strut“ Crooner-Qualitäten
als Sänger und legt nebenbei ein perfektes Jazz Album mit Tradition
und New Orleans- Touch vor. Ein Geheimtipp. Zum Höhepunkt des
Sommers (19. Juli) ver-öffentlichen Colour Of Fire „Pearl
Necklace“. Bemerkenswert, weil Punk, Grunge, Emo, Metal, Core
und Funk in selten gehörter Ausgewogenheit zelebriert werden.
Schön laut. Ausklingen sollte der Sommer melancholisch mit
den Schweizern Shilf. Pop mit Folk und Traurigkeit. Aber nie Depression.
„Out for Food“ meistert die Klippen des Lebens und bereitet
den herbstlichen Übergang sensibel vor. Transzendent.
Sven Ferchow
Diskografie
Candi Staton: Candi Staton (Capitol Records)
The Blueskins: Word of Mouth (Domino/Rough Trade)
Palais Schaumburg (Tapete Records)
Toni Kater: Gegen die Zeit (it-Sounds/BMG)
John Frusciante: The Will to Death (Wea)
Wilco: A Ghost is Born (Wea)
H-Blockx: No Excuses (X-Cell Records)
Sivert Höyem: Ladies & Gentlemen of the Opposition (Virgin)
New Found Glory: Catalyst (Universal/Motor)
David Poe: Love is Red (Ulftone Records)
The Datsuns: Outta Sight/Outta Mind (V2)
Plastyc Buddha: Our friends eclectic (Lea, Intergroove)
Sonic Youth: Sonic Nurse (Universal/Motor)
Michael Kaeshammer: Strut (Alma Records)
Colour of Fire: Pearl Necklace (PIAS)
Shilf: Out for Food (Ulftone Records)