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nmz-archiv
nmz 2004/07 | Seite 38
53. Jahrgang | Juli/Aug.
Rezensionen
Schatten-Dasein
Komponisten, die aus dem Raster fallen
Unser musikgeschichtliches Verständnis orientiert sich an
Eckdaten: Sie sind an bedeutenden, zumindest bekannten Komponisten
und deren Werk festgemacht. Das ergibt zwangsläufig eine Auswahl
in Form eines Rasters, das höchstens einen Überblick ermöglicht.
Es ist überdies so weitmaschig gewirkt, dass es überflüssig
Scheinendes als Quantité négligeable durchfallen lassen
kann. Daraus entsteht in der Nachwirkung ein fehlerhaftes, zumindest
ein unvollkommenes Bild. Taucht ein bislang unbekanntes Material
auf, das der Überprüfung standhält, führt das
zu einer Korrektur des Raster-Systems und erweitert es.
Diese Situation ist diskussionsbedürftig angesichts einer
Legion von unbekannten, abseits angesiedelten, auch verkannten Komponisten
– in jedem Jahrhundert, in jeder Stilepoche. Es mag überraschen,
dass ein Blick in den aktuellen Bielefelder Klassik-Katalog darüber
informiert. Er führt auf, was auf dem im ganzen flüchtigen
Medium Tonträger für eine gewisse Zeit erreichbar ist,
bietet vom effektiv Existierenden allerdings nur einen Ausschnitt.
Selbst dieses Wenige – eine bunte, aber spezielle Palette
– ist staunenerregend und erweitert unseren Wissensstand erheblich.
Begreift man die Information als Anregung, stellt sich als Folge
nahezu automatisch die Frage, was der Grund dafür sein mag,
dass so viele Komponisten dauerhaft in den Schatten von Zeitgenossen,
die die Eckdaten ungewollt verantworten, treten, also ein Nischendasein
fristen, und das überwiegend für immer.
An nur wenigen, durch CD-Neuerscheinungen aktuell belegbaren Beispielen
soll das Phänomen beleuchtet werden. Es erscheint besonders
gegeben im 19. Jahrhundert. Dieses wird beherrscht von Richard Wagner,
sodann von Bruckner und Brahms, die ihrerseits sogar singuläre
Komponistenpersönlichkeiten wie Schumann, Mendelssohn, Liszt
und Chopin in unserer Wahrnehmung – je nach persönlicher
Vorliebe – zurücktreten lassen. Max Bruch, fünf
Jahre jünger als Brahms, erscheint bereits als ein Zuspätgeborener.
Und welche Chance bot sich zu seinen Lebzeiten und bietet sich heute
für den Komponisten Eduard Franck?
Er war direkter Zeitgenosse der Eckdatenbesetzer, war nur vier
Jahre jünger als Wagner und hat ihn zehn Jahre überlebt.
Seine Vita verlief unspektakulär (im Gegensatz zu der Wagners),
er war Kompositionsschüler Mendelssohns, wurde von Schumann
beachtet, er unterrichtete und war ein anerkannter Klaviersolist,
zum Beispiel in Beethovens Klavierkonzerten. Er gehörte nicht
zur neudeutschen Schule Liszts und hat sich nie der Oper angenähert.
Sein kompositorisches Schaffen umfasst Orchestermusik und Werke
für Kammerbesetzungen und scheint schon zu seinen Lebzeiten
nicht sonderlich bekannt geworden zu sein. Das beantwortet die Frage
nach Francks Wirkung auf seine Zeitgenossen negativ. Eine Nachwirkung
war daraufhin wohl ebenfalls kaum zu erwarten.
Mittlerweile liegen sieben CDs mit Musik von Eduard Franck vor,
sie sind zwischen 1996 und 2004 erschienen und verdanken sich der
Zusammenarbeit des Labels audite (und seines Initiators Ludger Böckenhoff)
mit verschiedenen Rundfunkanstalten. Die treibende Kraft setzte
indes von künstlerischer Seite ein, von der Geigerin Christiane
Edinger. Sie hat zwei Violinkonzerte Francks sowie Streichquartette
und neuerdings dessen beide Streichsextette mit ihrem Edinger-Quartett
(unter Zuzug weiterer Musiker) aufgenommen. Besonders Francks Kammermusik
evoziert die Frage, warum diese Musik so ganz vergessen scheint
und ob sie nicht eine faire Chance verdiente. Dazu muss man ihre
Existenz erfahren (was diese CD-Reihe leistet), das Aufführungsmaterial
erhalten können und natürlich als Voraussetzung vom Sinn
ihrer Präsentation überzeugt sein.
Vorbilder und stilistische Nachbarschaften, gar Abhängigkeiten
lassen sich immer herstellen, wenn man Zeitbezüge und biographische
Hintergründe der Komponisten kennt. Hört man die Musik
Francks, etwa seine beiden Streichsextette (die immer an Brahms
und Dvorák denken lassen, auch wenn man das nicht zulassen
will), so hört man, wenn man es ehrlich angeht, den eigenständigen
musikalischen Kern dieser Musik heraus, ihre perfekte Handwerklichkeit
und damit einen Originalitätsanspruch, der hinter Brahms nicht
zurückstehen muß (auch wenn Brahms bei der Betrachtung
– zugegebenermaßen – nie gänzlich auszuschließen
ist).
Je näher man als Musikhörer einer Stilepoche steht,
desto heikler ist der Versuch, zwischen lebenden Komponisten zu
vergleichen. Zum Beispiel ist die Bedeutung und musikhistorische
Nachwirkung Olivier Messiaens (Jahrgang 1906) unbestreitbar, seine
Position innerhalb der neuen Musik des 20. Jahrhunderts eindeutig.
Diese Merkmale konnten unter anderem erwachsen aus Messiaens Eingebundensein
in einen definierbaren kulturellen Zusammenhang. Der Vergleich Messiaens
mit einem amerikanischen Komponisten seines Jahrgangs bietet sich
an. Paul Creston, 1985, also sieben Jahre vor Messiaen, gestorben,
hat – kulturell gesehen – eine schwierige Kinder- und
Jugendzeit durchgemacht. Er erfuhr kaum Förderung durch die
Familie, die er ab dem 15. Lebensjahr miternähren mußte.
Seine Ausbildung zum Musiker erfolgte ausnahmslos autodidaktisch
– von etwas frühem Klavier- und Orgelunterricht abgesehen.
Creston hat – welch seltsame Palette – so unterschiedliche
Geister wie Bach, Scarlatti, Chopin, Debussy und Ravel als seine
Lehrer bezeichnet. Als Kinoorganist schlug er sich durch, stand
in keiner Verbindung zu bekannten Statthaltern der Musikszene und
war schon über 30, als er ein Stipendium erhielt. Toscanini
hat 1942 immerhin ein Stück des 36-Jährigen dirigiert.
In den USA scheint heute das eine oder andere Werk Crestons zum
Pflichtrepertoire der heimischen Orchester und ihrer Dirigenten
zu gehören. So sind auch einige nicht von den ersten Orchestern
der USA aufgenommene CDs mit älteren Einspielungen einiger
Symphonien und Konzerte Crestons bei uns erhältlich. Die jüngste
des Labels Naxos stammt aus diesem Jahr. Sie kann nur wenig beeindrucken,
und zwar nicht etwa beim Vergleich Crestons mit Messiaen oder einem
anderen dieser Jahrgangsstufe – das verbietet allein schon
die Kenntnis vom völlig isolierten kulturellen Heranwachsen
Crestons. Aber seine von Grund auf traditionell verwurzelte, allenfalls
spielerisch mit dissonanten Anschärfungen in eine pseudochaotische
sich begebende, ausgesprochen antiquiert wirkende Klangwelt sucht
sich Wege, die nicht nur ins Abseits führen, sondern auch –
originalitätsarm wie sie ist – gleichsam sich selbst
aufzehrt. Creston gibt auch kein Gegenbild zu Messiaen ab, dazu
wäre eher der Balte Eduard Tubin, geboren 1905, mit seinen
elf Symphonien in der Lage, obwohl er im grundsätzlichen ästhetischen
Gegensatz zu Messiaen steht.
Das Stichwort „isoliert“ trifft nicht auf den dritten
Komponisten zu, der genannt werden soll. Ihm gegenüber befinden
allenfalls wir uns im Fast-Zustand der Isoliertheit, zumindest einem
der Uninformiertheit. Der Bielefelder Katalog nannte ihn bisher
mit einem einzigen Werk, nämlich Klavier-Variationen auf einer
Hyperion-CD. Es ist der 1951 in New York geborene George Tsontakis,
Sohn italienischer Immigranten, Kompositionsschüler von Roger
Sessions und später der römischen Akademie Santa Cecilia.
Seinem Alter nach gehört Tsontakis zu dem deutschen Komponisten
Wolfgang Rihm. Dessen Kompositionsästhetik ist in ganzer Breite,
auch mit ihren neuerdings immer evidenter werdenden differenzierten
Grundabweichungen, einsehbar, die von Tsontakis, nach der neuen
CD mit einem freilich sehr gewichtigen Werk zu urteilen, durchaus
nicht. Allerdings verdeutlicht sie die originelle Eigenwilligkeit
und das subjektive Eigengewicht der Musik des Amerikaners, der hier
betont kulturenübergreifend vorgegangen ist, indem er „Die
vier Quartette“ T.S. Eliots seinen „Four Symphonic Quartets“
zugrundegelegt hat, ihnen aber lediglich in ihrem Sprachklang und
nicht ihrer theoretischen Basis und den entsprechenden Konsequenzen
gefolgt ist. Die vier Stücke von knapp einer Stunde Dauer reflektieren
den geheimnisvoll-wunderbaren Kosmos der zu Unrecht verdrängten
Dichtung Eliots und geben ergiebige Auskunft über des Komponisten
ausgewählten literarischen Geschmack und über seine Fähigkeit,
Poesie als Antriebsmoment zu nutzen, ohne darüber reproduktionsartig
in eine Abbildungsmanier zu verfallen. Tsontakis’ Musik ist
emotionsaufgeladen und emotionsgesteuert, entgleitet dabei nicht
in Beliebigkeit trotz der gezielten Mischung aus dissonanten und
konsonanten Klangelementen und der großangelegten Klangaufschwünge,
die Tsontakis aus melodiös geführten und rhythmisch scharf
abgegrenzten Mikroelementen als thematische Bausteine entwickelt.
Charles Ives mag zu Teilen Pate gestanden haben für diese vier
aufrauschenden symphonischen Sätze, deren jeder für sich
steht in der möglichen zyklischen Bindung. Nicht groß
ist der Abstand dieser Musik von Tsontakis zu den elementaren Naturpoemen
des Isländers Jón Leifs (1899–1968). Aber der
könnte gleich eine neue Betrachtung in Gang bringen.
Die konzentrierte Begrenzung des hier angestoßenen Themas
auf nur drei Komponisten, die im Schatten alles beherrschender Jahrhundertfiguren
stehen, aber zumindest in zwei Fällen ihrer künstlerischen
Bedeutung gemäß eine eigengewichtete Beachtung verdienen,
steht stellvertretend für eine kaum je zu beendende Diskussion
des Themas. Der enorme, gar nicht zu erfassende Reichtum an Musik
durch die Zeiten hin wird nie wunschgemäß darzustellen
sein. Gezeigt werden muss jedoch, welcher breiten Basis die oben
beschriebenen Eckdaten der Musikgeschichte ihren Standort verdanken.
Hanspeter Krellmann
Diskografie
Eduard Franck: Streichsextette opp. 41 und 50; Edinger Quartett,
Leo Klepper (Viola), Mathias Donderer (Violoncello).
audite /Naxos 20.033
Paul Creston: Toccata op. 68, Symphonie Nr 5, op.64, Out of the
Cradle, op. 5, Partita op. 12; Seattle Symphony, Gerard Schwarz.
Naxos 8.559153
George Tsontakis: Four Symphonic Quartets. Orchestre de Philharmonique
de Monte-Carlo, James DePreist.
Koch International Classics 3-7384-2-H1