Lieder und Bilder, Trennungsstriche und Konjunktionen
Audio-visuelle Mischformen bei der neu konfigurierten Berliner
Reihe „Konzerte | Oper 04“
Früher besaßen die Berliner Festwochen Themenschwerpunkte
im Bereich Musik und waren alljährlich im September Marksteine
des europäischen Festspielkalenders. Dann kam eine neue Leitung
und wollte alles anders machen, um durch Experimente neue Publikumsschichten
zu erreichen. Den Begriff „Festwochen“ behielt sie nur
noch auf dem Briefkopf bei. Mit diesem Umbruch, dem Verlust der
bisherigen Themenschwerpunkte und Veranstaltungsorte sowie der Ausweitung
auf drei Monate vergraulte man bisherige Besucher, ohne neue zu
gewinnen. Auf einmal standen die bisherigen Festwochen im Schatten
neuer spektakulärer Festivals, etwa von Young Euro Classic
oder der hochkarätig besetzten Türkei-Woche SIMDI NOW,
und wurden kaum noch wahrgenommen. Angesichts leerer Säle bat
Kulturstaatsministerin Christa Weiss für die vor allem vom
Bund finanzierten Veranstaltungen um wieder stärker publikumsorientierte
Programme. So entstand für diesen September die kammermusikalisch
besetzte Reihe „Konzerte | Oper 04“, die zwar weiterhin
den Festwochen-Begriff mied, eine programmatische Abstimmung mit
den Philharmonikern aber nicht länger ausschloss.
Reinbert de Leeuw brachte
neue Aspekte ein. Foto: Charlotte Oswald
Nachdem die „Berliner | Festspiele“ bisher bei MaerzMusik
und JazzFest typographische Annäherungen bevorzugten, haben
sie nun ihre Liebe zum senkrechten Trennungsstrich entdeckt. Trotz
dieser (Berliner) Mauer zwischen Wörtern und Ziffern (auch
in der Vorschau auf „04 | 05“) haben sie ihren Konfrontationskurs
zur Vergangenheit und zu traditionellen Veranstaltungsorten aufgegeben.
Auch die Reihe „Konzerte | Oper 04“ suchte nicht die
Trennung von Konzert- und Opernaufführungen, die der Strich
zu signalisieren scheint, die Splendid Isolation der Einzelteile,
sondern Übergangs- und Vermittlungsformen. Wohl programmatisch
stand deshalb das neue Werk „Interzone“ von Enno Poppe
und Marcel Beyer am Anfang. Weder der Komponist noch der Dichter
haben bislang im Opern-Bereich gearbeitet, weshalb sie diesen Begriff
ebenso mieden wie den des Musiktheaters. Das Ergebnis ihrer Zusammenarbeit
nannten sie im Untertitel „Lieder und Bilder“, damit
die gattungsmäßige Zwischenposition, aber auch den Sieg
des Visuellen über die Dichtung verratend. Dass man vom englischen
Text, einer Adaption der Erzählung „Interzone“
von William S. Burroughs, kaum etwas verstand, schien unwichtig,
da es nur „um das Gefühl des Übergangs, um die Existenz
im Transitorischen“ ging. Die marokkanische Stadt Tanger war
der Schauplatz für die Erzählung eines Bienenforschers.
Viel mehr interessierte Marcel Beyer aber die Tonlage der Melancholie,
während die Videokünstlerin Anne Quirynen von den Facettenaugen
der Bienen schnell zu Fensterfronten amerikanischer Hochhäuser
überwechselte. Musik, Sprache und Bild hatten für sich
ihren Reiz, bildeten aber nicht plausible Zusammenhänge oder
anregende Interaktionen. Trotz der Gleichzeitigkeit der Medien dominierte
so der Trennungsstrich über das „und“, wurde die
„Interzone“ zur „Inter|Zone“. Dies bedauerte
man vor allem angesichts der faszinierenden Musik des in Berlin
lebenden Enno Poppe mit ihrem klaren Gegenüber von Ensemble
und Solo und einer „Bienenmusik“ von Countertenor, Bass
und Sprecher im Zentrum. Poppes Material-Trilogie „Holz –
Knochen – Öl“, die den seriellen Ansatz originell
mit Klangvorstellungen des Spektralismus verbindet, kam in einem
eigenen Konzert-Abend mit dem Klangforum Wien stärker zur Geltung.
Brecht und Weill, Hofmannsthal und Strauss – solche Idealkonstellationen
ergeben sich nicht alle Tage. So wenig wie es bei „Interzone“
zwischen Enno Poppe und Marcel Beyer wirklich „funkte“,
so wenig zwischen dem österreichischen Komponisten Johannes
Maria Staud und dem deutschen Dichter Durs Grünbein bei ihrer
Oper „Berenice“. Joachim Sartorius, der Intendant der
Berliner Festspiele, und André Hebbelinck, ihr Musikchef,
hatten diese zwei Künstler, die noch niemals für das Musiktheater
gearbeitet hatten, zusammengebracht. Ihre Ratlosigkeit war dem bereits
in München und Wien gezeigten Werk anzumerken. Die gleichnamige
Erzählung Edgar Allan Poes, die Staud wegen ihrer dramatischen
Spannung ausgewählt hatte, übernahm Grünbein über
weite Strecken wörtlich. Die Hinzufügung weiterer Figuren
wie die von Poe und eines ihn bedrängenden Vamps machte den
Stoff nicht opernhafter, sondern steigerte nur die Textmenge. Überhaupt
schien der Gattungsbegriff Oper verfehlt. Zu erleben war im Haus
der Berliner Festspiele eine Art missglücktes Songspiel, eine
Reihung von 27 Szenen, denen trotz musikalisch gelungener Songs
(makellos gespielt vom Klangforum Wien) die dramatische Spannung
fehlte, die die Autoren in die Gegenwart hatten übertragen
wollen. Warum Egaeus seine Cousine Berenice so grausam entstellte,
machten weder die langen Monologe noch die Videoprojektionen verständlich.
Während die Titelfigur erst zum Schluss ihre Zähne verlor,
war die Oper schon von Beginn an ohne Biss.
Wenn auch die Musiktheater-Versuche in diesem Jahr weniger überzeugten
als 2003, so können doch die Bemühungen um audio-visuelle
Vermittlungsformen nicht rundweg als gescheitert betrachtet werden.
Dabei hatte der kleine Debussy-Schwerpunkt, der verwandte Philharmoniker-Programme
Simon Rattles ergänzte, literarisch oder malerisch orientierte
Werke gerade ausgespart. Debussys Streichquartett, gespielt vom
Quatuor Diotima, wurde mit einem neuen, streng strukturell gedachten
Werk von Hanspeter Kyburz kombiniert, während zwei Debussy-Sonaten
unter dem Titel „Saariaho | Debussy“ mit zwei Werken
Kaija Saariahos gekoppelt waren. Die Finnin will ganz bewusst Emotionen
entfalten und mit ihren Hörern kommunizieren. Bei den tanzenden
Vögeln aus dem Flötenkonzert „Aile du Songe“
gelang ihr das besser als bei der naiv-direkten Darstellung der
Gefühle bei Liebe und Schwangerschaft in ihrer fünfsätzigen
Komposition „Je sens un deuxiéme coeur“, deren
Finale unter dem Titel „Ich spüre ein zweites Herz ganz
nah an meinem schlagen“ („Doloroso, sempre con amore“)
die Kommunikation zwischen Mutter und Kind beschreibt. Glücklicherweise
hat die Komponistin hier auf die ursprünglich geplante Opernform
verzichtet. Dass auch ihre Komposition „Graal théâtre“
trotz des Titels kaum dramatisch wirkte, mochte an dem wenig suggestiven
Spiel des Geigensolisten John Storgårds gelegen haben. Bei
„Continuum“ von Colin Matthews kam mehr Spannung auf,
obwohl die Sopranistin Rikka Rantanen die Texte von Eugenio Montale
fast unverständlich sang.
Das von Reinbert de Leeuw geleitete Asko & Schönberg
Ensembles brachte erfolgreich neue Aspekte in die traditionelle
Konzertform ein. Dies verdankte sich dem niederländischen Komponisten
Michel van der Aa, dessen Kammeroper „ONE“ im Vorjahr
Aufsehen erregt hatte. Nun war seine thematisch verwandte HERE-Trilogie
in deutscher Erstaufführung zu erleben. Wie bei ONE wird der
Gegenstand von Schönbergs Monodrama „Erwartung“,
die Einsamkeit einer Frau, weiterentwickelt und mit dem Prinzip
der Täuschung konfrontiert. Ging es in der Kammeroper beim
verwirrenden Gegenüber von Bühnen- und Videorealität
um die optische Täuschung, so jetzt um das Gegenüber von
live erklingender und vom Band eingespielter Musik – um die
akustische Täuschung. Der Gegensatz von Live und Konserve bestimmte
auch die angedeutete „Handlung“: die Hauptfigur, die
fabelhafte Sopranistin Barbara Hannigan, war im ersten Teil der
Trilogie als Puppe in einem Schrank verborgen, bevor sie im zweiten
leibhaftig das Konzertpodium betrat. In der Hand hielt sie einen
Kassettenrecorder, der die aus elf Basisakkorden bestehende Musik
aufnahm und plärrend wiedergab, aber auch die Live-Wiedergabe
beeinflusste. Denn das Ensemble wiederholte plötzlich eine
Motivkette, als sei es selbst eine gestörte Maschine.
Auch wenn die Sängerin ein Duett mit ihrer eigenen Aufnahme
anstimmte, wurden Struktur und Handlung zur untrennbaren Einheit.
Obwohl Michel van der Aa, ein Schüler etwa von Louis Andriessen,
damit erneut eine eher schlichte Partitur vorlegte, lieferte er
ein multimediales Konzept, das insgesamt wegen seiner Schlüssigkeit
überzeugte.
Theatralische Momente besaß auch die Gesamtaufführung
der Klavierstücke von Karlheinz Stockhausen. In der Klangregie
des Meisters begann sie ausgerechnet am 11. September, wobei nun
allerdings Kommentare zu den Ereignissen am World Trade Center wohlweislich
unterblieben. Mehrfach konnte man an den drei Abenden die Entwicklung
von der noch ganz von Webern geprägten Strenge zu einer dem
Improvisatorischen und Theatralischen sich öffnenden Freiheit
erleben. Dem perkussiven, gelegentlich hölzernen Spiel von
Benjamin Kobler und Antonio Pérez Abellán stand die
katzenhafte Eleganz von Frank Gutschmidt gegenüber. Der „neue
Mensch“, den Stockhausen zufolge diese Klaviermusik ausbildet,
ist also nicht notwendig ein uniformes Wesen. Waren am ersten Abend
sogar die frühen Klavierstücke durch Lautsprecher verstärkt
worden, so unterblieb diese Verfremdung glücklicherweise später.
Notwendig waren Verstärkung und Klangregie dagegen bei allen
Stücken, bei denen ein Synthesizer oder ein Tonband das Klavier
beziehungsweise das Keyboard ergänzte. Unfreiwillig komisch
wirkte das aus der Oper „FREITAG aus LICHT“ kondensierte
Klavierstück XVII mit seinen jaulenden, an Mickey Mouse und
Geisterbahn erinnernden Bandeinspielungen, während das aus
der gleichen Oper gewonnene Klavierstück XVI durch einen viel
größeren Reichtum an Bewegungsformen und Gesten beeindruckte.
Die drei Stockhausen-Veranstaltungen fanden im Haus der Berliner
Festspiele, der ehemaligen Freien Volksbühne, auf der normalen
Bühne und nicht auf der kleinen Hinterbühne statt. Wie
hier das Parkett kaum zur Hälfte gefüllt war, so verloren
sich an den anderen Abenden die Zuhörer im Kammermusiksaal
der Philharmonie. Die prinzipiell richtigen Änderungen der
Programmkonzeption haben sich auf den Besuch bislang kaum ausgewirkt,
kaum auch auf die Presse, die weiterhin von den „früheren
Festwochen“ spricht. Ob der Reihentitel „Konzerte |
Oper 04“ bestehen bleibt, ist noch offen. Man befindet sich,
wie es heißt, „in einer konzeptionellen Phase“.
Der nächste September soll bei noch stärkerer Terminkonzentration
ein internationales Orchestertreffen bringen. Die einstigen Festwochen
verbünden sich damit wieder mit den Philharmonikern. Sie treten
dann in Konkurrenz mit dem jüngeren und vom Publikum weitaus
besser akzeptierten Festival Young Euro Classic.