Die 29. „Tage alter Musik in Herne“ warteten mit
interessanten Konzerten und einem Symposium auf
Alte Musik ist nichts für junge Menschen. So lautet ein beliebtes
Vorurteil, und die Publikumsstrukturen – auch die von Klassikfestivals
generell – scheinen das immer wieder zu bestätigen. Der
neue Leiter der „Tage alter Musik in Herne“, WDR-Redakteur
Richard Lorber, möchte dagegen angehen. Zur 29. Ausgabe des
Festivals war er angetreten, um die alte Musik mit neuen Impulsen
ins 21. Jahrhundert zu führen.
Ars Antiqua Austria bei
der Produktion „Habsburgs Spiegel, Habsburgs Traum“.
Foto: Thomas Kost/WDR.
Die „Tage alter Musik in Herne“ unterschieden sich
in diesem Jahr am Ende zwar nicht wesentlich von den Festivals der
Jahre zuvor; der angekündigte frische Wind präsentierte
sich nur als leichte Brise. Immerhin aber waren einige Neuerungen
doch in Ansätzen spürbar. Das diesjährige Motto war
wieder reich an Facetten. „Vivo o deliro – Lebe ich
oder bin ich schon im Wahn?“ lautet ein Zitat aus Georg Friedrich
Händels Oper „Ariodante“. „Wahn, Vision und
Wirklichkeit“ (so der Untertitel des Mottos) hatte Richard
Lorber auf vielfältige Art und Weise in den insgesamt zehn
Konzerten untergebracht.
Ludovico Ariosts Epos „Orlando furioso“, das zahllosen
Komponisten als Fundus für Opernstoffe gedient hat, diente
zur Erprobung einer neuen, multimedialen Präsentationsform
alter Musik. Hörspielautorin Margareth Obexer lieferte verbindende
Texte für ein Pasticcio aus Werken von Antonio Vivaldi, Georg
Friedrich Händel und Johann Adolf Hasse, die das Epos von Ariost
zur Vorlage haben. Der zeitgenössische Komponist Detlev Glanert
steuerte zudem zahme, poetische Lieder für Countertenor und
Gitarre bei. Zudem tauchte eine riesige Diskokugel den Saal des
Herner Kulturzentrums zu gegebener Zeit in glitzernden Mondschein.
Der Abend, in Verbindung mit dem „Wortsender“ WDR 5
konzipiert, konnte jedoch weder musikalisch noch dramaturgisch überzeugen.
Das „Orchestra barocca Modo Antiquo“ unter Federico
Maria Sardelli spielte ohne Verve, Schauspieler Paul Faßnacht
als erzählender Ariost wechselte durchsichtig zwischen schreiendem
Pathos und beiläufigem Gemurmel. Die Sängerriege blieb,
bis auf die Sopranistin Elisabeth Scholl, farblos.
Dem Wahn und der Wirklichkeit der fanatischen Napoleon-Verehrung
des frühen 19. Jahrhunderts war in Herne ein weiteres großes
Abendkonzert gewidmet. Ein gesundheitlich angeschlagener, aber dennoch
mit größter Energie musizierender Bruno Weil widmete
sich der ersten Sinfonie des Napoleon-Protegées Etienne Nicolas
Méhul. Weil brachte einiges an musikalischem Gestaltungswillen
mit, das zeigte sich auch bei der „Eroica“-Sinfonie
von Ludwig van Beethoven. Die „Cappella Coloniensis“
folgte ihm zwar, das Kölner Traditionsensemble hat man aber
auch schon klangschärfer erlebt.
Die beglückenden Erfahrungen in Herne jedoch waren am Ende
zahlreicher als die Enttäuschungen. Bejubelt wurde schon der
Auftakt des Festivals mit der Gruppe „Los Otros“, die
Instrumentalmusik aus Mexiko, der Karibik, Mittelamerika und Spanien
präsentierte. Ihr Programm „Aguirre – Gottes Zorn
und Lebenslust“ wartete mit einem Galliarden tanzenden Steve
Player, dem auf vielen Barockgitarren versierten Gitarristen Lee
Santana, der Star-Gambistin Hille Perl und dem Perkussionisten Pedro
Estevan auf, der mit seinen Improvisationen der alten Musik eine
neue Farbe verlieh. Herausragend auch der Auftritt des vierköpfigen
Vokalensembles „La Colombina“. Mit atemberaubender Präzision
intonierten die vier Sängerinnen und Sänger Gregorianik
und Messkompositionen aus dem spanischen Königspalast, dem
„Escorial“. Als musikalischer Höhepunkt der „Tage
alter Musik in Herne“ erwies sich jedoch das letzte Konzert
mit dem glänzend aufgelegten Ensemble „Ars Antiqua Austria“
unter Gunar Letzbor. Sie nahmen sich der Huldigungsoper „Julo
Ascanio, Re d’Alba“ von Johann Joseph Fux an. An der
Spitze der exzellenten Interpretenriege: Radu Marian, der einzige
Sänger der Gegenwart mit einer natürlichen Sopranstimme.
Das obligate musikwissenschaftliche Symposium des Festivals, das
wie immer durch eine Instrumentenausstellung ergänzt wurde,
erforschte die vielseitige Nutzung des Cembalos als Generalbass-Instrument.
Im angeschlossenen Werkstatt-Konzert präsentierte Musikforscher
und Cembalist Siegbert Rampe Musik für Cembali, die eigens
für die Interpretation zeitgenössischer Musik angefertigt
wurden: Auch dies eine neue Farbe im Herner Festival und eine weitere
Brücke in die Gegenwart.
In einem „Kulturpolitischen Forum“, prominent besetzt
mit den Dirigenten Reinhard Goebel und Michael Schneider, der Journalistin
Eleonore Büning und Eva Coutaz, Produktionsleiterin von „harmonia
mundi France“, wurde über das übersättigte
Publikum diskutiert und die miserable finanzielle Situation der
Instrumentalisten. Auch die Sonderstellung der alten Musik innerhalb
der klassischen Musik in der pädagogischen Praxis und auf dem
Tonträgermarkt war ein Thema. Obwohl die Grenzen zum traditionellen
Musikbetrieb bereits aufgeweicht wurden und sich gegenseitig befruchten,
ist das Trennende immer noch groß.
Für die Zukunft der „Tage alter Musik in Herne“
hat sich Richard Lorber vorgenommen, das Festival noch populärer
zu gestalten. Für 2005 etwa ist eine Fernsehübertragung
geplant, zudem sollen neue Spielstätten erschlossen werden.
„Wir möchten mit unseren Sendungen besonders auch die
so genannten ‚Neuen Kulturinteressierten‘, ansprechen,
also die Menschen, die offen sind für Klassik, aber gleichzeitig
auch an neuer Radiokunst interessiert sind, an Jazz, an Weltmusik“,
so Lorber. Dass es die „Tage alter Musik in Herne“ in
Zukunft jedoch nicht leichter haben werden, ist abzusehen. Vielleicht
wird hier das zurzeit herrschende Überangebot an musikalischer
Hochkultur im Ruhrgebiet eine Rolle spielen. An die grandiosen Auslastungszahlen
des Jahres 2003 jedenfalls – den höchsten in der Geschichte
der „Tage alter Musik in Herne“ – konnte man diesmal
nicht anknüpfen.