Im vierzigsten Jahr seines Bestehens erinnert das Jazzfest Berlin
an seine Anfänge
Das politische Feuilleton tut es, die Politiker tun es, die Stammtische
tun es sowieso: Seit der Ermordung des holländischen Filmemachers
Theo van Gogh läuten sie gemeinsam das Ende der multikulturellen
Gesellschaft ein. Leitkultur, Mehrheitskultur, Monokultur, Kampf
der Kulturen, das sind nur einige der neuen Schlagworte für
die alte Maxime: „Lasst uns in Frieden. Wir wollen unter uns
bleiben.“ Dass diese Tendenzen parallel zur rasant sich entwickelnden
Globalisierung entstehen, ist kein Zufall, sondern typische Begleiterscheinung
von Migrationen.
Auf seiner letzten Tournee
auch in Berlin zu Gast: Charles Lloyd (li.) zelebrierte
mit dem Tabla-Spieler Zakir Hussain (nicht im Bild) und
dem Perkussionisten Eric Harland eine Hommage an den Schlagzeuger
Billy Higgins. Foto: Jazzfest Berlin
Das Fremde erzeugt Angst. Es kann aber auch Produktivität
frei setzen. Was im besten Sinne geschehen kann, wenn verschiedene
Kulturen aufeinander prallen, lässt sich gut am Jazz verfolgen.
Die Migrationsbewegungen innerhalb der USA und hinein in die USA
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren wichtige Voraussetzung
für das Entstehen einer Musik, die man heute Jazz nennt. Im
Jazz trafen sich vor allem afrikanische und europäisch-nordamerikanische
Kultur. Jazz war vieles: Ethnie, Unterhaltung, Geschäft. Jazz
stärkte die Moral der Truppe im Krieg gegen Nazideutschland.
Jazz wurde aber auch Ausdruck der neu erwachten afroamerikanischen
Identität nach diesem Krieg. Und für den weißen
Teil der Bevölkerung entwickelte er sich zu einem intellektuellen
Nebenzweig der Popkultur, mit der Hippies und 68-Revolutionäre
gegen ihre Väter aufbegehrten.
Szenenwechsel: Berlin ist ein anschauliches Beispiel für
den cultural clash in Europa: früher Trennlinie, heute Bindeglied
zwischen Ost und West; eine Stadt aufgeteilt in westdeutsche, ostdeutsche
und türkische Quartiere. Kulturell immer in Bewegung zwischen
bunter Alternativ- und repräsentativer Hochkultur. Ein fester
Bestandteil dieser multikulturellen Metropole ist seit vierzig Jahren
das Jazzfest Berlin. Anfang November feierte sich das große
deutsche Jazzfestival jedoch nicht nur selber, sondern thematisierte
die Idee des Jazz: eine Musik als Resultat von Akkulturation.
Der künstlerische Leiter, Peter Schulze, fühlt sich längst
nicht mehr allein auf amerikanische Stars angewiesen: „Derzeit
entsteht in Europa eine sehr heterogene, von vielen Kulturen beeinflusste
und geprägte Musik. Ob man die nun Jazz nennt oder nicht, ist
eine zweitrangige Frage.“
Bewährte europäische Künstler wie seine Vorgänger
Albert Mangelsdorff oder George Gruntz waren mit der NDR Big Band
zu Gast in der Philharmonie: Eine Reminiszenz an Zeiten als der
Jazz noch als Synonym für Freiheit stand und daher noch großen
Hof halten konnte im geteilten Berlin. Heute findet sich dagegen
das Berliner Jazzfest als ein weiteres potenzielles Opfer auf der
Streichliste der ARD-Rundfunkanstalten. Der Begriff Europa stand
dieses Jahr wiederum für Avantgarde und Experiment. Billy Jenkins
hatte seinen Spaß mit den Fun Horns, Gerd Dudek bot „Klassisches“,
Iain Ballamy und Stian Carstensen machten große Kleinkunst,
etwa mit ihrer Version von Hanns Eislers „An den kleinen Radioapparat“.
Aki Takase spielte mit ihrer Band Fats Waller-Kompositionen, ein
Programm, das inzwischen auch mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik
ausgezeichnet wurde.
Herausragend, wenn auch umstritten, war der Auftritt des britischen
Saxophonisten Denys Baptiste. Sein Programm „Let Freedom Ring“
bot große afrobritische Musik im Geiste der amerikanischen
Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre. Fragwürdig jedoch
die optische Beigabe, ein Multimediaset der VJs Marc Silver und
Marc Francis, das Folter- und Gewaltszenen aus vier Jahrzehnten
wild durcheinander mixte.
„Let Freedom Ring“ basiert auf Martin Luther Kings
berühmter Rede „I have a dream“ – hier schloss
sich der Kreis zwischen den Anfängen 1964 und dem Jubiläumsfest.
King hatte zur Eröffnung des 1. Jazzfestes, damals noch Berliner
Jazztage, ein Geleitwort geschrieben, das in seinen Kernaussagen
heute noch Gültigkeit hat. „Viel von der Macht unserer
Freiheitsbewegung in den Vereinigten Staaten ist aus dieser Musik
gekommen. ...Und heute wird Jazz in die ganze Welt exportiert. Denn
im Kampf des Schwarzen in Amerika steckt etwas allgemeingültiges
für den universellen Kampf des modernen Menschen.“
Dieses Credo war auch 2004, vierzig Jahre nachdem King diese Worte
den Jazzfestgründern als Geleitwort schrieb, im Konzertprogramm
zu entdecken. Das Jazzfest Berlin feierte einen vor Vitalität
sprühenden Rückblick: mit Retro-Jazz als höchster
Gegenwartskunst und zeitgenössischem Jazz, der sich seiner
politisch-spirituellen Herkunft bewusst war.