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nmz-archiv
nmz 2004/12 | Seite 14
53. Jahrgang | Dez./Jan.
Gegengift
Fragment und Werk
Manchmal muss man sich selbst misstrauen. Besonders wenn man mit
allen einer Meinung ist. Zum Beispiel die Radio-Reform. Hat sich
schon mal einer hingestellt und gesagt: Format- und Klassik-Radio
find ich richtig gut. Als Pop-Fan liebe ich die ewige Rotation,
hundert oder zweihundert Hits, die sich, computergesteuert, so lange
durch alle Lebenslagen drehen, bis einem schlecht und schwindlig
wird. Als Klassik-Konsument geh ich gern nach dem verkehrten Metzgerprinzip
vor „Darf’s ein bisschen weniger sein“. Gibt es
denn Schöneres als Sinfonien und Sonaten in dünne Scheiben
geschnitten und mit Werbejingles gewürzt?!
So redet keiner, der bei Verstand und Reputation ist. Aber angeblich
hören die meisten so. Die Quote ist unser Seelendurchleuchter
und der öffentliche Diskurs ein Terrain der Heuchler. Verhält
es sich so? Der FAZ-Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier, der auch
ein gewiefter Selbstinszenierer und ein Maestro greller Medien-Possen
ist, hat einst mit seiner Generalattacke auf die Bayern 4-Klassik-Reform,
die ihm angeblich die letzte Lust am Autofahren vergällte und
das Abendland dem Abgrund einen entscheidenden Schritt näher
brachte, mehr Leserbriefschreiber in Halbacht-Stellung gebracht
als Bush mit seinem Irak-Krieg und Eichel mit seinem jüngsten
Haushaltsloch zusammen.
Klar wurde in all dem kakophonischen Lärmen vor allem eins:
der Radiohörer verteidigt das kulturelle Erbe bis zur letzten
Note, das ganze Werk ist ihm noch heiliger als der ganze Mensch.
Merkwürdig bleibt bei der ganzen Aufregung nur eins: Die Produzenten
der ganzen Werke haben selbst auf Teufel (sprich: Einfall) komm
raus gefleddert; hier ein paar Seiten in Hast (manchmal auch: in
Muße) durchstöbert, dort einen Mozartschen Gassenhauer
(ein winziges Thema!) bis zur Ermüdung der Lippen gepfiffen
oder einen erinnerungsträchtigen Jimi Hendrix-Song per Repeat-Taste
in die abendfüllende Dauerrotation getrieben. Schon die Frühromantiker
haben das Fragment theoretisch geadelt: Wenn die wahre Welt überhaupt
sichtbar wird, dann in der gedrängten Abbreviatur, in Bruch
und break. Später versuchten die Dadaisten in der Not des Ersten
Weltkriegs und des grassierenden Ideenschwindels eine alternative
Strategie der Selbstachtung und Weltrettung durch konsequente Sinnzerstörung.
Und Benjamin und Brecht glaubten nicht an die sich ins große
Ganze versenkende, jede Störung verabscheuende hermeneutische
Verstehensfeier, sondern an die fachmännisch-zerstreute Diskussion
bei noch laufendem Werk nach dem Vorbild von Boxkampf und Sechstage-Rennen.
Andacht war den Avantgardisten aller Zeitalter fremd. Sie sahen
im ganzen Werk vor allem eins: die günstige Gelegenheit; die
ewige Baustelle und den unerschöpflichen Steinbruch. Ist das
Format-Radio nur die Praxis der Produzenten im Zeitalter der technischen
Reproduzierbarkeit? Und verteidigen am Ende die qualitätshörigen
Verehrer des ganzen Werks, die Unantastbarkeit des guten Alten nur,
weil ihnen nichts Neues einfällt?