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nmz-archiv
nmz 2004/12 | Seite 15
53. Jahrgang | Dez./Jan.
Hochschule
Musik ist Bewegung ist Musik
Wahrnehmung und Bewegung im musikpädagogischen Kontext ·
Von Beate Robie
Mit dem Thema „Wahrnehmung und Bewegung im musikpädagogischen
Kontext“ angesichts der Forderungen nach handlungsorientiertem,
bewegtem und sinnlichem Lernen brachte die Rhythmik ihre fachspezifischen
Qualitäten erneut in die öffentliche Wahrnehmung. Drei
tragende Säulen der Rhythmik (Musik, Bewegung, Wahrnehmung)
wurden in Theorie und Praxis beleuchtet und in ihrer Bedeutung für
Bildungsprozesse untersucht.
Kritiker der Rhythmik bemängeln, sie sei ein erfahrungsbasiertes
Fach ohne theoretisch-wissenschaftliche Begründung ihrer Vorgehensweisen.
Dies erkennend konzipierte Prof. Marianne Steffen-Wittek (Weimar)
in diesem Symposium wissenschaftliche Akzente: Sie lud neben namhaften
Rhythmikern/-innen auch fachfremde Referenten/-innen ein, so dass
das Fach zusätzlich Impulse und Unterstützung aus anderen
Disziplinen bekam.
Erfahrungsorientiert und
wissenschaftlich: ein Schnappschuss vom Rhythmiksymposium
in Weimar am 9. und 10. Oktober 2004. Foto: Anne Stiller
So ist beispielsweise das mentale Training, das Arbeiten mit Sensomotorik
und Vorstellungsbildern in der Bewegungs- und Musikpädagogik
gängige Praxis. Weitere Unterstützung bekommen diese Ansätze
nun von unerwarteter Seite – Dr. Franz Mechsner vom Institut
für Arbeitsphysiologie (Dortmund) erläuterte diverse Forschungsergebnisse.
„,Jeden Morgen geht die Sonne auf‘ möchte die
Kleine auf der Blockflöte spielen. Doch es hört sich grauslich
unbeholfen an, so verkrampft stolpern ihre Finger dahin. ,Was ist
denn das für ein Lied‘, fragt die Lehrerin. ,Ein Sonnenlied‘,
antwortet das Kind. ,Ja, dann spiel doch diesmal für die Sonne.‘
Und tatsächlich klingt das Lied jetzt besser.“
Warum ist das so? Wieso verbessert ein Vorstellungsbild das Spiel?
Das Max-Planck-Institut entwickelte eine Versuchsanordnung zur
Frage, wie komplizierte Bewegungskoordinationen gesteuert werden.
Die Probanden sollten mit beiden Händen zwei unsichtbare Kurbeln
unter dem Tisch drehen. Die Kurbeln steuerten zwei sichtbar kreisende
Zeiger und die Aufgabe war, diese Zeiger gleich schnell kreisen
zu lassen. Die Krux dabei: Der linke Zeiger kreiste so schnell wie
die linke Kurbel (Hand), der andere Zeiger bewegte sich schneller
als die Kurbel bzw. Hand. Die Versuchspersonen mussten die Hände
in einem Tempoverhältnis von vier zu drei bewegen, um die Zeiger
gleich kreisen zu lassen – eine Koordinationsleistung, die
Ungeübten kaum möglich ist. Trotzdem gelang ihnen das
geforderte Bewegungsmuster recht gut, indem sie nur auf die Zeiger
achteten und dabei ihre Hände „vergaßen“.
Das Fazit: Bewegungskoordination gelingt durch leichte Muster der
Wahrnehmung (bzw. deren mentale Vorstellung) und nicht durch das
Einprogrammieren motorischer Muster. Es gilt also, einfache „Bilder“
der – visuellen, akustischen, kinästhetischen –
Wahrnehmung zu finden, um die Koordination zu steuern.
Die Rolle der Bewegung für die Rezeption stand im Mittelpunkt
der sich ergänzenden Vorträge von Prof. Dr. Eva Bannmüller
(Ludwigsburg) und Dr. Michaele Furgber (Markdorf).
Furgber ging in ihrer Doktorarbeit von der These „Bewegung
zu Musik differenziert die auditive Wahrnehmung von Grundschulkindern“
aus. Ihre Ergebnisse besagen, dass emotionales Hören stark
von der Bewegung profitiert, das strukturelle Hören jedoch
weniger.
Als Konsequenz ihrer Ergebnisse fordert Furgber für den Musikunterricht
in der Grundschule u.a. mehr Handlungsorientierung und Körperlichkeit
sowie mehr prozessorientiertes Vorgehen an Stelle von Repräsentation
– Forderungen, die im Rhythmikunterricht seit langem verwirklicht
werden.
Bannmüller wünscht in ähnlicher Weise eine „produktive
Sinnlichkeit“, denn „ein Kunstwerk kann ... nicht wie
eine fertige Wahrnehmungsbahn betreten und durchlaufen werden“.
Der Zugang solle jenseits von verkrusteten Wahrnehmungen geschehen
und Bewegung spiele die entscheidende Rolle, um die nötige
Wahrnehmungsdifferenzierung zu erreichen.
Wahrnehmen...
In den Workshops und Foren zeigte sich, dass die Rhythmik einen
zeitgemäßen, phantasievollen und großen Praxis-Fundus
bereit hält. Fachtypisch wurden rhythmische Raffinessen über
einen körper-sinnlichen Zugang erarbeitet. Prof. Steffen-Wittek
verband den Ansatz „Zeige, was du hörst“ mit den
technischen Möglichkeiten einer Groove-Box. So aufbereitet,
können auch Hiphop-begeisterte Jugendliche angesprochen werden
und einen aktiven Zugang zu der von ihnen bevorzugten Musik bekommen.
Barbara Schultze (Remscheid) führte mit elektrisierender Energie
in eine metrische Vielschichtigkeit und Eve Gubler (Potsdam) deklinierte
die wahrnehmungsorientierten Herangehensweisen durch: Der 5/4-Takt
wurde akustisch, visuell, mit dem Tast- und dem Bewegungssinn erschlossen.
Prof. Reinhard Ring (Hannover) bot Konzepte und Übungen zum
Einstieg in Rhythmen anderer Kulturen an.
„Apalys“ nimmt auch wahr – und zwar die Beanspruchungen
der Wirbelsäule bei Musikern. Dieses Diagnoseverfahren bestimmt
die Beanspruchungswerte sogar instrumentenspezifisch. Dies ist notwendig,
um eine maßgeschneiderte Prophylaxe entwickeln zu können,
denn: Sport allgemein genügt nicht als Ausgleich und Prävention.
Eine Untersuchung an der Musikhochschule „Franz Liszt“
ergab, dass die Häufigkeit des Sporttreibens positiv mit dem
Rückgang allgemeiner Beschwerden am Stütz- und Bewegungsapparat
korreliert. Es wurden jedoch keine Auswirkungen auf instrumentenspezifische
Beschwerden beobachtet. Gemäß dieser Erkenntnis stellte
Prof. Dr. Egbert Seidel das Weimarer Präventionsmodell für
Musiker/-innen vor und Grazyna Przybylska-Angermann schilderte detailliert
die Einsatzmöglichkeiten der Rhythmik in der Prophylaxe. Über
die nötigen Umlernvorgänge bei körperlichen Problemen
referierte Prof. Dr. Eberhard Loosch (Erfurt).
...und spüren
Dorothea Weise (Trossingen) führte in die subjektiven Aspekte
der Wahrnehmung hinein. Sie erarbeitete mit den Teilnehmern vier
Modelle der Bewegungsreaktion auf Berührungsreize: die unmittelbare,
verzögerte, antizipierte oder verweigerte Reaktion. Allein
durch diese Modelle entfaltete sich in den Improvisierenden deutlich
eine subjektive Bedeutung der Berührung – der schlichte
Sinnesreiz wurde über die gesteigerte Eigenwahrnehmung zum
persönlichen Erlebnis. Übertragen auf Schönbergs
„Sechs kleine Klavierstücke“ entstanden Improvisationen
von hoher Aussagekraft – durch eine Bewegung, die von der
Musik inspiriert, aber nicht diktiert wurde. Hier wurde ein Durchtönen
der Musik durch die Persönlichkeit in die Bewegung hinein spürbar.
Und „Resonanz“ konnte im Bewegenden stattfinden –
ein Vorgang, den Prof. Elisabeth Gutjahr (Trossingen) für unabdingbar
in einem individuellen pädagogischen Prozess hält. In
ihrem Eröffnungsvortrag führte sie weiter aus, dass nicht
alleine die Arbeit an der Physis – an der funktionalen Bewegung
– genüge, um in ein adäquates Wechselspiel von Musik
und Bewegung zu kommen; vielmehr müsse die immaterielle Ebene
beider Medien intensiv einbezogen werden. Es gelte, die Auslöser
für die Bewegung zu reflektieren und an einer dialogisierenden,
gewollten, auch korrigierten Bewegung zu arbeiten.
Den gleichen Themenkomplex „subjektive Wahrnehmung“
erhellten die Ausführungen von Prof. Gisela Schwartz (Berlin)
zur Zeitgestaltung und -wahrnehmung in Neuer Musik. Schwartz betrachtete
diese Konzepte quasi vom Hörer aus – sie informierte
über die historisch gewachsenen Bedingungen unserer Rezeptionsweisen,
über wahrnehmungspsychologische Determinanten und sensibilisierte
für die Phänomene des subjektiven Zeitempfindens. Weitere
Workshops thematisierten die Arbeit mit Zielgruppen und anderen
Künsten. Prof. Sabine Vliex (Trossingen) erläuterte ihr
Konzept „Rhythmicals“ für Kinder und Jugendliche
und zeigte, wie Inhalte der Rhythmik zu einem aufführungsreifen
Produkt gedeihen können. Urte Gossmann (Berlin) stellte ihre
Arbeit mit „Klassik tanzen – Rhythmik mit älteren
Menschen“ vor. Christine Engel (Hamburg) verband „Musik,
Bewegung und Bildende Kunst“ und Hartwig Maag (Münster)
ließ die „Rhythmik im anderen Licht“ (Schwarzlicht)
erscheinen.
Prof. Gutjahr sensibilisierte für die Bedeutung von Zeichen
in Kommunikation und Improvisation, Frau Przybylska-Angermann beleuchtete
die Wechselwirkung von interaktiver Stimm- und Bewegungsimprovisation
und Christine Straumer untersuchte Zusammenhänge zwischen Tongebung
und Bewegungsqualität. Schließlich gab Prof. Reinhard
Ring einen Überblick über Entwicklungen in der internationalen
Rhythmikszene.
In der Gesamtschau offenbart sich die Diskrepanz zwischen der möglichen
Bedeutung des Fachs und seiner unbefriedigenden realen bildungspolitischen
Situation. Um so mehr ist dem Initiator Prof. Dr. Eckart Lange (Institut
für Musikpädagogik und Musiktheorie der Hochschule für
Musik „Franz Liszt“, Weimar) zu danken, dass er dieses
Symposium anregte. Der Arbeitskreis Rhythmik in der Hochschule übernahm
wesentliche Aufgaben, so dass schließlich rund 100 Teilnehmer
vom geballten Sachverstand profitieren konnten. Die nächsten
Aufgaben sind klar zu erkennen. Prüfte die Rhythmik in diesem
Symposium ihre Relevanz eher vor Fachpublikum, sollte sie sich,
von innen gestärkt, mit der gleichen Energie und Fantasie um
Präsenz auf der bildungspolitischen Ebene bemühen.
Eine Dokumentation des Weimarer Rhythmik-Symposiums kann über
die Hochschule für Musik „Franz Liszt“ bezogen
werden.
Tel. 03643/555-186
Fax 03643/555-187
E-Mail: manuela.jahn@hfm-weimar.de