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nmz 2004/12 | Seite 3-5
53. Jahrgang | Dez./Jan.
Magazin
Die Bildungs-Bilanzbuchhalter haben verloren
Musikalische Bildung im Visier der aktuellen Schul- und Bildungspolitik
· Von Rainer Dollase
Der Untertitel dieser Abhandlung suggeriert eine Frontstellung
jener, die sparen müssen, gegen jene, die aus pädagogischen
und kulturellen Überzeugungen für die weitere Investition
in die musikalische Bildung streiten. Die guten alten Zeiten waren
jene, in denen das Gehalt vom Landesamt für Besoldung und Versorgung
stetig reichlicher floss und in denen die Stichwörter Kultur,
Theater, Musik, Malerei, Kunst die Gelder locker machten. Eine Zeit,
so scheint es im Rückblick, in der lästige Diskussionen
über die Legitimation von Ausgaben für die musikalische
Bildung und Kultur unnötig waren. Die schlechten neuen Zeiten
werden von Intendanten, Chefdirigenten und Schauspielhausleitern
gleichermaßen immer wieder und aktuell besonders häufig
beschworen: Orchester werden abgeschafft, Etats gekürzt, die
Zusammenlegung verschiedener Konzerthallen überprüft…
Das Wohlwollen der Geld verteilenden Politiker und Politikerinnen
ist meist vorhanden, doch wird in Zeiten knapper Kassen dieses Wohlwollen
alleine nichts nützen. Man muss sich in der Szenerie musikalischer
Hochkultur dieser neuen Legitimationskrise stellen.
Die Wurzeln der Legitimationskrise gehen auf Subventionsdiskussionen
der klassischen Hochkultur zurück, die eigentlich in den 60er/70er-Jahren
bereits begonnen wurden. Der Musikwissenschaftler Bergmann hat rückblickend
formuliert, dass die Frage einer Subventionierung (wir werden sehen,
dass der Begriff Investition günstiger wäre) der klassischen
Hochkultur mit einem Paradigmenwechsel der Musikwissenschaft einhergegangen
ist: Von der absolutistischen Betrachtung der musikimmanenten Strukturen
und Bedeutungen zur referenzialistischen, also empirischen Bedeutung
von Musik (Farnsworth, 1976). Diese Position konnte zeigen, dass
die psychische Funktionalität unterschiedlicher Musikrichtungen
und Musikqualitäten ähnlich ist. Aus solchen Ergebnissen
erwuchs sehr schnell die Frage: „Warum wird die eine Kultur
vom Staat gefördert und die andere nicht?“ Man erwartete
dann zwingend die Antwort, dass die Hochkultur bessere Effekte habe
als die (früher so genannte) U-Musik. In frühen Umfragestudien,
die ich zusammen mit Michael Rüsenberg und Hans Stollenwerk
im „Rockpublikum“ (1974), im „Jazzpublikum“
(1978) und in verschiedenen Konzerten (1986) durchgeführt habe,
haben wir dem Publikum auch die Frage vorgelegt: „Was halten
Sie davon, dass die Stadt Köln zum Beispiel Theater und Oper
finanziell unterstützt?“, und haben eine überwältigend
positive Einstellung des Publikums gefunden: 69,2 Prozent waren
dafür. Überraschend ist allerdings nicht dieser globale
Durchschnittsbefund, sondern die Tatsache, dass auch Besucher von
Schlagerkonzerten (Peter Alexander) oder Volksmusikkonzerten (Maria
Hellwig) zu 71 bzw. 55 Prozent dafür waren, dass eine Subvention
der Hochkultur stattfindet (R. Dollase, Rüsenberg, & Stollenwerk,
1986). Das Gegeneinanderausspielen von E- und U-Musik, in den 70ern
noch ein aktueller Topos der Diskussion, spielte in den letzten
zwei Jahrzehnten keine große Rolle mehr. Dennoch sind die
Fragen angesichts leerer Kassen, die durch Überalterung der
Gesellschaft und durch die Globalisierung der Wirtschaft bedingt
sind, knallhart: Brauchen wir eine qualitativ hochstehende musikalische
Bildung? Brauchen wir überhaupt die klassische musikalische
Hochkultur? Ist musikalische Bildung überflüssig? Ist
sie etwa im Vergleich zu den Naturwissenschaften weniger wichtig?
Muss sie gar aus der staatlichen Obhut in den Markt entlassen werden?
Öde Landschaft? Die Fotos auf dieser und
den nächsten Seiten zeigen ein Panorama der Universität
Regensburg, aufgenommen von Martin Hufner
Die zweite Wurzel der aktuellen Legitimationskrise ist die PISA-Krise,
und zwar ihre wirtschaftliche Fehlinterpretation. Die Öffentlichkeit
tut ausgesprochen und unausgesprochen so, als seien die PISA-Ergebnisse
ein eins zu eins übertragbarer Gradmesser der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit eines Landes. Dem ist nicht so, da etwa
die USA, wirtschaftlich führend, ähnlich schlecht in allen
Vergleichsstudien abschneidet wie die Bundesrepublik. Der aktuelle
OECD-Bericht (2004) über das Bildungswesen hebt im Übrigen
hervor, dass Deutschland im internationalen Vergleich nach Korea
die meisten Studenten mit einem Abschluss in einem naturwissenschaftlichen
Studium bzw. mit Ingenieur-Ausbildung hervorbringt. Wenn denn angenommen
werden müsste, dass die naturwissenschaftliche Kompetenz eines
Landes entscheidend für die Wirtschaftskraft wäre, so
müsste man eigentlich zufrieden sein. Auch der Vergleich der
PISA-Ergebnisse mit früheren Vergleichsstudien, nicht nur mit
TIMSS, sondern vielleicht auch mit SIMMS oder FIMMS, Anfang der
70er-Jahre, hat gezeigt, dass sich Deutschland eigentlich verbessert
hat. 1974 lag Deutschland in vielen Altersgruppen bei einem internationalen
Vergleich in Mathematik und Naturwissenschaften auf dem letzten
Platz – seit TIMSS und PISA haben wir immerhin Mittelplätze
erreicht. Wirtschaftlicher Erfolg hängt schließlich auch
davon ab, wie es gelingt, eine bestimmte Menge von Personen so auszubilden
und zu fördern, dass sie den wirtschaftlichen Fortschritt aktiv
und tatkräftig vorantreiben können.
Die Subventions- und PISA-Krise als Auslöser einer vergangenen
und auch aktuellen Debatte um die Legitimität von Ausgaben
für hochkulturelle Zwecke könnte durch ihre aktuellen
Protagonisten mit Geduld ausgesessen werden. Sie könnten versucht
sein, sie durch besondere Schweigsamkeit und durch leise Töne
zu unterlaufen. Möglicherweise ist dies auch eine erfolgreiche
Strategie, um ein Minimum an Existenzfähigkeit für die
musikalische Hochkultur zu sichern. Hier soll aber der andere Weg
beschritten werden, nämlich der Versuch von Antworten auf die
Fragen nach der Legitimität von Ausgaben für die musikalische
Hochkultur und die musikalische Bildung. Es wird also auf ökonomische
Fragen ökonomisch geantwortet.
Multieffektivität
Eine erste Antwortidee bzw. eine Kausalkette, die man in die Debatte
um die Legitimität werfen könnte, wäre folgende:
Musikalische Bildung steigert kognitive Fähigkeiten, Disziplin,
Intelligenz, Sekundärtugenden, macht zufrieden et cetera, was
durch entsprechende Untersuchungen zu belegen wäre. Diese Mithilfe
bei der Steigerung positiver Eigenschaften kommt der Gesamtleistung
eines Menschen, seiner Integration in eine Gesellschaft zugute und
dieser Effekt müsste sich segensreich auf die ökonomische
Kraft eines Landes auswirken. Diese Kausalkette ist keineswegs weit
hergeholt, sie ist nicht illusorisch, sie ist empirisch überprüfbar
und es gibt in der Tat eine Reihe von Untersuchungen, in denen diese
Kausalkette zumindest plausibel gemacht wird. Nicht alle dieser
empirischen Untersuchungen zeigen knallige, eindeutige und gewaltige
Effekte, viele zeigen differenzierbare Resultate, zeigen aber auch,
dass für eine endgültige, mit naturwissenschaftlicher
Sicherheit zu treffende Aussage in einigen Bereichen noch weitere
Untersuchungen nötig sind. So lange einige Untersuchungen dafür,
andere Untersuchungen dagegen sprechen bzw. keine Effekte zeigen,
sind solche hundertprozentig sicheren Aussagen natürlich noch
nicht möglich. Aber es gibt niemanden und auch keinen Grund,
davon auszugehen, dass Musik keine segensreiche Wirkung auf Leistungs-
und psychosoziale Variablen hat.
Auch wenn es weiteren Forschungsbedarf über die musikalischen
und nichtmusikalischen Effekte von musikalischer Bildung und Hochkultur
geben sollte, darf die „These von der Multieffektivität“
der musikalischen Bildung schon formuliert werden. Zwar kann man
durch Mathe, durch Physik, durch Sprachen lernen seine kognitiven
Fähigkeiten verbessern, aber auch durch Musik machen und Musik
analysieren. Unbestritten ist auch ohne weitere Untersuchung, dass
die Fähigkeit, konzentriert und analytisch zuzuhören,
das Spielen eines Instrumentes, dass die musikalische Analyse jeweils
intellektuelle Herausforderungen stellt, die das Hirn anstrengen,
gleichzeitig den Menschen aber auch zufrieden und motiviert machen
können. Musikalische Übungen strengen das Gehirn an, verbessern
seine Kondition, weshalb natürlich Fähigkeiten geschult
werden, die auch im ökonomischen Gesamtzusammenhang sehr wesentlich
sind. Ganz abgesehen von dem Zwang, sich in Chöre, Orchester
auch sozial einzufügen, sich zu verständigen, auch blind
auf den anderen zu vertrauen, also Kooperation zu trainieren. Zwar
gibt es für viele dieser Förderbereiche auch andere Tätigkeiten
als Alternativen (etwa Mannschaftssport), aber es ist nicht jeder
ein Sportler und Musik hat ein ganzheitliches Anforderungsprofil,
das sich auf viele Bereiche bezieht, deswegen auch einzigartig ist
und ein gewisses Alleinstellungsmerkmal besitzt.
Wirtschaftsfaktor
Wir haben zunächst die Kausalkette „Musik steigert
Leistung und wirtschaftlich relevante Fähigkeiten“ betrachtet
und wollen nun einmal davon absehen und uns fragen, ob Musik wirtschaftlich
wichtig werden könnte, wenn sie nicht kognitive Fähigkeiten,
sondern nur das Interesse und die Akzeptanz von Musik steigern könnte.
Untersuchungen, die die Kausalkette belegen, müssten zeigen,
dass beispielsweise mit Musikunterricht, mit Musikalienhandlungen
oder privaten Musikschulen die Teilnahme an der musikalischen Kultur,
letztlich die Ausgabe von Geld verbunden sein kann. Wer Musik mag,
kauft musikalische Produkte und Dienstleistungen – das ist
ein Wirtschaftsfaktor im Rahmen der Kulturwirtschaft. Der ist, wie
der Kulturwirtschaftsbericht zeigt, nicht so groß wie andere
Sektoren, aber er ist ein Wirtschaftsfaktor und der gibt vielen
Menschen Arbeit und Brot.
Wie kann man diese Kausalkette belegen? Die Musikschulen berichten
seit längerer Zeit von einem erheblichen Boom und Run auf ihr
Angebot, viele Eltern wollen ihren Kindern das Spielen eines Instrumentes
beibringen lassen. Wir haben heute einen gigantischen Musikboom,
Musik ist überall präsent. Als die Firma Apple vor kurzer
Zeit iTunes gründete, eine Instanz, in der man für wenig
Geld Songs herunterladen kann, hatte sie innerhalb weniger Tage
Millionen Downloads zu verzeichnen. Zwar lässt die Nachfrage
nach Klassik noch zu wünschen übrig, aber hier gibt es
auch eine Bremse, da erst ältere Menschen sich für klassische
Musik interessieren und häufig den technischen Geräten,
dem Internet, dem Computer usw. noch skeptisch gegenüber stehen.
Die Akzeptanz von Musik, die Nachfrage nach musikalischen Dienstleistungen
inklusive der musikalischen Bildung ist also eher größer
geworden.
Oft wird beklagt, dass die Akzeptanz für klassische Musik
bei jungen Menschen nicht gegeben sei. Dass man, wenn man einen
Konzertsaal betritt, überwiegend in einen Silbersee von grauen
Haaren blicken würde. Diese an Gerontophobie grenzenden Aussagen
sind aus wissenschaftlicher Sicht unverständlich. Wie Höffling
nachgewiesen hat, handelt es sich bei der Präferenz für
klassische Musik eher eindeutig um einen Alterseffekt, das heißt
erst ab einem gewissen Alter zwischen 35 und 59 Jahren beginnt das
Interesse an klassischer Musik zu wachsen (Höffling, 1997).
Das kann möglicherweise daran liegen, ganz im Sinne der Theorie
von Berlyne, dass musikalische Hörerfahrungen kumulieren müssen,
ehe man den Reiz komplexer Klassikstücke erkennen kann (Berlyne,
1971). Dass auch junge Menschen als Wunderkinder und musikalisch
Hochbegabte klassische Musik schätzen können, kann auch
damit zusammenhängen, dass höhere musikalische Begabung
und Bildung dazu führt, dass man die schönen Seiten der
Klassik wegen der höheren Begabung und Bildung auch lebensalterlich
früher goutieren kann – insofern lohnt sich die Investition
in Klassikkontakte für die Jugend.
Man könnte die „These von der Nichtumkehrbarkeit der
kulturellen, der zivilisatorischen Evolution“ formulieren.
Sie besagt, dass Musik nicht museal werden kann und dass sich die
musikalische Kultur als Anpassung an die evolutionsbiologisch erzeugten,
anthropologischen Konstanten des Menschen notwendigerweise entwickelt
hat. So wie vieles andere, etwa das Interesse des Menschen an Parfum,
an Kleidung, an Mode, an Frisur, alles eigentlich Äußerlichkeiten,
alles nicht sonderlich wichtig und dennoch die größten
Wirtschaftszweige, die auf nichts anderem gründen, als auf
dem Wunsch der Menschen, sich schön zu machen. Mit einer ähnlich
stabilen biologischen Grundlage muss auch das musikalische Interesse
rechnen. Wer mit kleinen Kindern zu tun hat, weiß das genauso
wie alle, die mit Pubertierenden und ihrem dramatisch anwachsenden
Musikinteresse konfrontiert sind. Es gibt auch im eigentlichen Sinne
keine unmoderne oder museale Musik, weil wir es bei der musikalischen
Produktion nicht mit einem Prozess zu tun haben, der vergleichbar
wäre mit der Evolution technischer Geräte, etwa von Schreibmaschinen.
Auch alte und uralte Musik kann heute Interesse und Akzeptanz finden.
Das hängt damit zusammen, dass der Zugang und die Akzeptanz
der Musik über individuelle Konditionierungsgeschichten vermittelt
wird und nicht mehr nur durch kollektive, sodass sich gesellschaftliche
Konditionierungen nicht mehr in der Musikvorliebe widerspiegeln
können. Diese Theorie habe ich zusammen mit Rüsenberg
und Stollenwerk im „Jazzpublikum“ (1976) entwickelt
und es gibt bislang kaum Argumente gegen diese Auffassung (Rainer
Dollase, Rüsenberg, & Stollenwerk, 1978). Unter evolutionsbiologischen
Gesichtspunkten versucht der Mensch, durch den technischen Fortschritt
die Situation der Urhorde wieder herzustellen. Das Handy ist nicht
ein kulturell fremder Gegenstand, sondern er zielt darauf, die schnelle
Kommunikation mit allen Menschen, die einem wichtig sind, auch in
einer auseinander gezogenen und mobilen Gesellschaft, aufrechtzuerhalten.
Man kann alle Veränderungen und Evolutionen auf diesen evolutionären
Drive von Menschen zurückführen, diese alten Zustände
wieder herzustellen. Echte Modernität ist also der Rückschritt
in die Nähe und Abgeschlossenheit der steinzeitlichen Horde.
Alle Informationen, die wichtig waren, alle Menschen, die man benötigte
und alles Angenehme war sofort und unmittelbar verfügbar. Zwar
regelten Rituale und Zwänge der physischen Welt die Zeitpunkte
der Bedürfnisbefriedigung – aber die Wünsche des
Menschen waren damals wie heute dieselben.
Für uns ist wichtig: Was natürliche und natürlich
basierte Akzeptanz findet, ist ein Wirtschaftsfaktor. Wir sollten
uns an dieser Stelle vergegenwärtigen, dass wir es bei diesem
Satz nicht mit einer Banalität zu tun haben. Es ist eine Banalität
für jene, die tagtäglich mit Musik zu tun haben und sie
wissen es auch. Aber in einer Diskussion um das ökonomische
Überleben eines Staates, der mit einem massiven Haushaltsdefizit
gestraft ist, muss ein solcher Zusammenhang deutlich betont werden.
Zu häufig passiert es gerade in Zeiten der Reformhysterie,
dass wesentliche Säulen unserer Ökonomie angesägt
werden, weil man ihren indirekten und subtil vermittelten Beitrag
zu dieser Ökonomie nicht genau analysiert hat bzw. ihn nicht
zur Kenntnis nehmen will. Stattdessen sollte man von einer hier
zu formulierenden dritten These ausgehen: Es ist die „These
von der räumlichen Verteilung, Verlagerung, von Bedürfnissen
befriedigender Ökonomie durch die Globalisierung“. Niemand
glaubt ernstlich, dass durch die Globalisierung und ihre Folgen
bestimmte Lebensbereiche untergehen und nicht mehr so gefördert
werden wie bisher. Was wahrscheinlicher ist, und hier muss man Wirtschaftsexperten
glauben, ist, dass sich überall neue Schwerpunkte bilden. Das
kann natürlich bedeuten, dass eine regionale Subkultur zugrunde
geht, sich dafür aber anderswo mit mehr Leistung und besserer
Effizienz etabliert. Es kann etwas von Nordrhein-Westfalen weggehen,
was aber woanders besser entsteht. Es kommt ein Verteilungskampf,
eine Verlagerungsbewegung auf uns zu und in dieser Verteilung und
Verlagerung muss der eigene Standortvorteil, muss die eigene Infrastruktur
entdeckt und gestärkt werden. Und dazu ist eine Politisierung
nötig. Und deshalb muss sich dann auch die musikalische Bildung
gegen konkurrierende Bildungsbereiche behaupten. Damit sei die Kooperation
zwischen Musik und Sport und anderen Bereichen, die ähnlich
um ihre Finanzierung bangen, nicht ausgeschlossen, aber die Musik
darf nicht ins Hintertreffen geraten, sondern muss ihre Stärken,
ihre Alleinstellungsmerkmale deutlich machen. Globalisierung bedeutet:
die eigenen Stärken erkennen und ausbauen.
Fassen wir zusammen: Auf die Subventions- und PISA-Krise und die
damit zusammenhängenden Streichungsbefürchtungen von Investitionsgeldern
in musikalische Hochkultur und die musikalische Bildung kann man
mit verschiedenen Thesen antworten. Die eine ist die nach Multieffektivität
der Musik: Was effektiv für Leistungsvariablen ist, ist ökonomisch
wichtig! Die zweite lautet: Was akzeptiert ist, was Interesse findet,
ist ökonomisch bedeutsam! Und die dritte beschäftigt sich
damit, dass bei einer so fundierten Grundlage eine Globalisierung
zu einem Konkurrenzkampf um den besten Standort führen wird.
Diese drei Thesen gelten auch für die musikpädagogische
Exzellenz einer Region.
Wirkung und Akzeptanz schafft ökonomische Grundlagen, so meine
Thesen, und daran legt man keine Axt, eine solche Kultur treibt
man nicht in die Funktionslosigkeit. Der öffentliche Anteil
daran ist es, Infrastruktur zu schaffen. Dazu gehört sicherlich
auch eine besonnene und wirkungsvolle Etablierung der musikalischen
Bildung im Schul- und Bildungssystem. Das sind keine Subventionen,
sondern das sind Investitionen in die Zukunft, ja in die wirtschaftliche
Zukunft.
Übrigens: Es gibt mittlerweile so viele Argumente und empirische
Untersuchungen zur musikalischen Bildung und musikalischen Hochkultur,
dass man auch einen Blick auf andere Fächer, die zurzeit nicht
in Frage stehen, werfen darf: Gibt es vergleichsweise positive Untersuchungen
über Politikunterricht, über Geschichte, ja auch Physikunterricht,
Mathe, Chemie oder läuft der Chemieunterricht an unseren Schulen
so ab, dass man schon ein Jahr nachher überhaupt nichts mehr
über Chemie weiß und dass man dadurch auch kein Verständnis
für Chemie entwickelt hat? Ohne diesen Fächern nahe treten
zu wollen ist eine gleiche Beweispflicht für die Wirtschaftlichkeit
für alle Fächer zu fordern. Man muss verhindern, dass
sich die Debatte nur auf Kunst oder Musik oder sonstige dem feuilletonistischen
Biertisch nicht unmittelbar evidente Leistungsfächer bezieht.
Beschädigungen
Nicht nur der musikalischen Bildung droht durch die Legitimationsdiskussion
eine Beschädigung, sondern natürlich auch der allgemeinen
Schul- und Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Die
Länder sind für die Schul- und Bildungspolitik wesentlich
zuständig und sie haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten
sehr unterschiedlich wirksam regiert. PISA E hat deutlich gezeigt,
dass etwa zwischen Bayern und Bremen sehr große Unterschiede
bestehen. Dieser Befund ist darum wichtig, weil Bremen mit seiner
Schul- und Bildungspolitik noch bis in die 2000er-Jahre hinein,
etwa in Nordrhein-Westfalen, als vorbildlich galt. Es ist auch darum
wichtig, weil innerhalb der Ministerien einiger Bundesländer
die entsprechenden Posten mit Personen besetzt wurden, die eher
auf der Seite solcher Bremer Vorschläge standen und für
die PISA, TIMSS, Vergleichsarbeiten eigentlich, ein Übel waren.
Auch die Patenschaften einzelner westlicher Bundesländer für
die östlichen nach der Vereinigung haben das Gefälle in
der alten Bundesrepublik exportiert: Nordrhein-Westfalen war für
Brandenburg zuständig und Bayern für Sachsen. Bei PISA
E gibt es einen ebenfalls nicht zu vernachlässigenden Unterschied
zwischen Brandenburg und Sachsen. Das sollte zusammen mit einigen
anderen Merkwürdigkeiten, zum Beispiel dem peinlichen Finnlandtourismus
nach den PISA-Veröffentlichungen, zu denken geben.
Warum war dieser Finnlandtourismus peinlich? Weil in der internationalen
Bildungs- und Unterrichtsforschung seit Jahren und Jahrzehnten bestens
bekannt ist, wann Unterricht gut ist. Man muss nicht nach Finnland
fahren, um herauszufinden, was die Finnen anders machen, dass sie
so gute Ergebnisse erreichen. Auch hätte eine weitsichtige
Planung der Hochschullandschaft dazu führen können, dass
mit wenigen Anrufen bei ein bis zwei Lehrstühlen für vergleichende
Pädagogik oder vergleichende Unterrichtsforschung bekannt ist,
was andere Länder besser oder auch schlechter machen. Was haben
die so genannten Experten, die offenbar keine sind, in Finnland
gesehen? Mit Hilfe der selektiven Wahrnehmung wurde uns ein Bild
von Projektunterricht, Gruppenunterricht, Offenem Unterricht in
Finnland vorgegaukelt, das dort so wenig Standard ist wie bei uns.
Der finnische Unterricht ist nach Insiderberichten durchgehend lehrerzentriert,
es zählt übrigens nur die schriftliche Leistung und nicht
das Gelabere im Unterricht, wie in vielen unserer Bundesländer.
Und in die Vorschulerziehung wird auch nicht so viel investiert,
wie immer behauptet wurde, sondern die Finnen schulen ihre Kinder
sogar später ein als die Deutschen, nämlich mit 7 Jahren,
und sie haben erst seit dem Jahre 2000 für einen kleinen Teil
der Vorschulkinder mit 6 Jahren eine Art von vorschulischer Erziehung
organisiert.
Unter Durchschnitt
Auch im jüngsten OECD-Bericht liest man mit Erstaunen, dass
der OECD-Schnitt bei 733 Schulstunden im Jahr liegt, in Deutschland
darunter, etwa 662, aber Finnland hat noch weniger Unterrichtsstunden,
nämlich nur 530. Die Laienhaftigkeit, mit der TIMSS und PISA
von eben jenen angeblichen Experten analysiert worden sind, die
für das schulische und unterrichtliche Chaos in einigen Bundesländern
zuständig sind, ist erschreckend. Jene Experten, die diese
in den Ruin treiben, sollen nun wieder die „Retter des Systems“
sein, anstatt sie in die Nachhilfe zu schicken. Es ist zu fürchten,
dass bei der Veröffentlichung der nächsten PISA-Ergebnisse,
Anfang Dezember 2004, Deutschland sich von seinem durchschnittlichen
Platz kaum nach oben bewegen kann.
Die These, die man an dieser Stelle hier äußern darf,
ist folgende: „Auch die musikalische Bildung hat unter einer
verfehlten Schul- und Unterrichtspolitik in vielen Bundesländern
gelitten“ (R. Dollase, 1993). Der Verzicht auf empirische
Bildungsforschung in den letzten dreißig Jahren, der sogar
von der Bundesbildungsministerin Bulmahn in einem Zeitungsinterview
zugestanden wurde, ist in einigen Bundesländern so total gewesen,
weil von den Kenntnissen über effektiven und erfolgreichen
Unterricht so gut wie nichts in der Politik angekommen ist. Ein
erster Fehler ist beispielsweise die Konzentration auf distale Merkmale
des Schulsystems, also Organisation, Schulpolitik, Schulprofil,
Schulstruktur et cetera.
Alle Zusammenstellungen und Metaanalysen gehen davon aus, dass
der Unterricht und die Fähigkeit eines Lehrers, mit einer Vielzahl
von Kindern gleichzeitig Lernerfolge zu erzielen (sog. Group Management)
und andere Variablen eines hoch qualitativen Unterrichtes, unter
anderem affektive und herzliche Beziehungen zu den Schüler/-innen,
die entscheidenden Variablen für die Qualität eines Schulsystems
sind. Um dieses zu erreichen, müsste man die Lehrerausbildung
völlig ummodeln, und zwar nicht in die Richtung, wie es im
Moment geschieht, in ein möglichst praxisfernes Fachstudium
ohne wirkliches Training an der Basis. Und man hätte gut daran
getan, Schulkulturen und -organisationen nicht in dem Maße
zu verändern, wie es in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren geschehen
ist. Auch die aktuellen Reformen gehen an den zentralen Defiziten
vorbei: Zentral ist z.B. Konzentration auf die Sekundarstufe I,
in der die PISA-Ergebnisse gewonnen wurden – stattdessen konzentriert
man sich unnötigerweise stärker auf Grundschule und auf
Kindergarten. (In der Grundschulvergleichsuntersuchung IGLU ist
Deutschland im oberen Drittel.)
Guter Unterricht ist kein Spaßunterricht, sondern ein Unterricht,
in dem Leistung mit Spaß erbracht wird. Diese Mischung zwischen
Konsequenz, Transparenz, hohen Qualitätsanforderungen, effektiver
Zeitnutzung, effektivem Classroom-Management und Herzlichkeit ist
das, was guten Unterricht ausmacht. Und das ist schon lange bekannt.
Erst heute, im Jahre 2004, legt der „Papst“ der Unterrichtsmethodik,
Hilbert L. Meyer, ein Buch vor mit dem Titel „Was ist guter
Unterricht?“, und er referiert dort überwiegend das,
was „psychologische Unterrichtsforschung“ in den vergangenen
Jahrzehnten hervorgebracht hat. Verdienstvoll, dass er es jetzt
tut, nicht verdienstvoll, dass diese Ergebnisse in der Vergangenheit
so wenig beachtet worden sind.
Durch die Reformen
Gehen wir einmal einige dieser modernen, distalen und gering wirksamen
Reformen durch: Das „Qualitätsmanagement“ hat die
Arbeitskraft von Lehrkräften gebunden für die Erstellung
von Schulprofilen und ähnlichem Papierkram. Dahinter steht
die immer wieder zu hörende, völlig falsche Meinung, dass
man durch Papier und aufgeschriebene Konzepte die Qualität
im Alltag verändern könnte. Es kommt stattdessen darauf
an, dass man das „Verhalten“ der Lehrerkräfte ändert.
„Kausale Schlussfolgerungen“ aus PISA oder aus anderen
Vergleichsarbeiten, auch aus Vergleichsarbeiten an einzelnen Schulen,
sind nur sehr schwer zu ziehen: Woran hat es gelegen, dass wir ein
gutes oder schlechtes Ergebnis haben? Die kausale Analyse wird dann
der Basis zur Beliebigkeit überlassen. Das darf es nicht. Die
empirische Unterrichtswissenschaft ist ein System, das stellvertretend
für die Basis die Wirksamkeit einzelner Faktoren untersuchen
sollte und ihre Kenntnis dann wieder an die Basis weitergibt. Oder
die geplante „Deregulierung“ von Schulen: Sie bannt
nicht die Gefahr einer absoluten Beliebigkeit vor Ort, einer Cliquenwirtschaft.
Es muss zentrale Sicherungen, Strukturierungen, Transparenz geben
und man sollte sich jetzt schon darüber im Klaren werden, was
man eben nicht deregulieren kann. „Bildungsstandards“,
oftmals als Allheilmittel empfohlen, sind im Grunde genommen nichts
anderes als die Richtlinien, die man bisher gehabt hat. In Richtlinien
steht auch, was man wann mit den Schülern, mit welchem Ziel
machen muss. Ein Bildungsstandard ist nur ein anderes Wort und ist
nichts Neues als Steuerungsinstrumentarium.
Die „Selbststeuerungsphilosophie“ grassiert in der
Bundesrepublik in einem Maße, dass man annehmen kann, man
wolle die Kinder sich selbst überlassen, damit man mit ihnen
nicht so viel Arbeit hat. Selbstständiges Lernen, Selbstregulation,
Selbstbewusstsein usw., eine Selbstbefriedigungsgesellschaft begeistert
sich an der Vokabel „Selbst“, die offenbar damit zusammenhängt,
dass man die eigene Verantwortlichkeit für hergestellte Erziehungs-
und Lernergebnisse weit von sich weisen möchte, so nach dem
Motto: Ich habe dir alles angeboten und du bist jetzt selber Schuld,
wenn du diese Angebote nicht annimmst.
Was wir stattdessen brauchen sind Erwachsene, die begeistert in
Beziehungen zu den Schülern treten und sie in ihrem Fach mitreißen
und ihnen den Zugang zu Bildungswelten eröffnen. „Bindung“
schafft Lernen, Beziehungen sind notwendig, Enthusiasmus von Lehrkräften,
Persönlichkeit zeigen – das sind Eckpunkte eines erfolgreichen
Unterrichtens. So etwas spielt in der aktuellen Reformdiskussion
keinerlei Rolle. Die Unterpsychologisierung der Lehrerausbildung
und der Lehre vom guten Unterrichten ist seit Jahrzehnten zu beklagen.
Nicht nur dass in Deutschland Schulpsychologen so selten sind wie
in Europa nur noch in Malta, nein, auch die Ausbildung der Lehrerpersonen
geht weitgehend an der Psychologie vorbei. Man kann Lehrer oder
Lehrerin werden, ohne jemals irgendetwas über Entwicklungs-
oder Lernpsychologie gehört zu haben.
Die „Benotung“ und Feststellung der Verfahren der Schülerleistung
sind in der Bundesrepublik in einigen Bundesländern dringend
reformbedürftig. Es darf nicht sein, dass die „mündliche
Mitarbeit“ und andere weiche Kriterien über Versetzung
und Schulabschluss entscheiden. Man lernt nur, wenn man sich auch
anstrengt, und das Vertrauen in die Schule als Beurteilungsinstanz
wird umso größer sein, je transparenter und objektiver
die Leistungsrückmeldungen sind. „Programme“, auch
evaluierte Programme, die heutzutage als Remedur für alles
Mögliche, für Gewalt, Aggressivität, mangelndes Selbstbewusstsein
usw. angeboten werden, ersetzen qualifizierte Lehrer/-innen nicht.
Man weiß seit den Debatten um Head Start-Programme, dass es
„teacher proof“, das heißt „lehrersichere“
Programme nicht geben kann. Der Erfolg eines Programms steht und
fällt mit der Persönlichkeit der Lehrenden.
Der „Methodenmonismus“ ist durch empirische Untersuchungsergebnisse
längst widerlegt. Man kann auf sehr unterschiedliche Art und
Weise, also auch durch Frontalunterricht, auch durch Offene Arbeit,
auch durch Gruppenunterricht, aber auch durch „direct Teaching“
große Erfolge erzielen. Es muss gelingen, drei Hauptprobleme
jeglichen erfolgreichen Unterrichtens zu lösen: 1. Es muss
Vollbeschäftigung im Unterricht erreicht werden (i.e. group
management), ich muss also in jeder Minute des Unterrichtes dafür
sorgen, dass möglichst viele Schüler sich geistig bewegen.
Das kann ich sowohl durch einen spannenden Vortrag erreichen als
auch dadurch, dass jeder individuell an einem Arbeitsblatt arbeitet.
Die fruchtlosen Auseinandersetzungen um die richtigen Methoden mit
ihren missionarischen Kämpfen binden Energien auf dem Weg zum
besseren Unterrichtsergebnis. 2. Lehrkräfte müssen über
Methoden der „Veranlassung“ von Schülern verfügen,
das heißt sie müssen sie beeinflussen, steuern und führen
können. 3. Lehrkräfte müssen unterrichten und erklären
können, also über Lehrmethoden verfügen mit denen
man schnell lernt und versteht. Die drei Anforderungen unterstützen
sich gegenseitig – keine davon ist überflüssig.
Wer nicht beeinflussen kann, kann weder das Group Management optimieren
noch unterrichten. Wer nicht unterrichten und erklären kann
– fängt mit den beiden anderen Forderungen auch nichts
an.
Pseudomodernität
Warum diese Aufzählung von Kennzeichen erfolgreichen Unterrichtens
an dieser Stelle? In meiner 4. These formuliere ich, „dass
nur guter Unterricht Wirkung und Akzeptanz erzeugen kann“.
Alles was diesen Unterricht zur Qual macht, was die Schüler/-innen
aus diesem Unterricht heraustreibt, was sie langweilt, was sie nicht
geistig und ganzheitlich fordert, ist zu vermeiden. Man muss sich
sehr um den guten Musikunterricht kümmern, um die segensreichen
wirtschaftlichen Effekte genießen zu können. Und ich
schließe eine 5. These an dieser Stelle an: „Die Pseudomodernität
zerstört Qualität“. Ein eklatantes Beispiel fand
ich bei einer Praxiswoche im Kindergarten. Ich habe nicht nur hospitiert,
also nur zugeschaut, sondern ich habe tatsächlich mit den Kindern
zusammen mit Gerd Detering, einem Fachberater, gearbeitet: Die Situationen,
in denen ich die Kinder in meiner Gruppe am meisten motiviert erlebt
habe, sind solche Situationen gewesen, in denen sie gesungen haben,
Singspiele gemacht haben, Kreisspiele et cetera. Allerdings konnte
ich an anderer Stelle bei Absolventen von Erzieherinnenschulen dann
ein achselzuckendes „Singen und Musik kann ich nicht, das
hat man uns nicht beigebracht, das finde ich auch doof“ hören
und die jungen Erzieherinnen reproduzieren damit nur das, was die
praxisfremden Theoretiker an den Hochschulen und Fachschulen, die
so genannten Experten, ihnen vordiktiert haben, dass küchensoziologische
Belehrungen und praxisferne Erörterungen für den Alltag
wichtig seien. Genau dieses ist mit Pseudomodernität gemeint.
In diesem Zusammenhang wäre außerdem zu fordern, dass
ab sofort alle, die irgendwelche Reformmaßnahmen entwerfen
oder irgendetwas verändern, in Praxis vormachen sollen, wie
es geht.
PISA und TIMSS erfassen keine Leistungen in der Musik, weshalb
uns hier Daten fehlen. Auch hier wäre es reizvoll, solche internationalen
Vergleichsuntersuchungsergebnisse zur Verfügung zu haben. Die
Richtlinien, die ja die Bildungsstandards und -inhalte definieren
(Machen, Hören, Umsetzen, Verständigen zum Beispiel),
sind sicherlich überall sehr kopfnickend zur Kenntnis zu nehmen
bzw. sind zum Teil brillant formuliert und lassen eigentlich keine
Wünsche übrig. Wie bei Bildungsstandards generell ist
auch die Formulierung von Qualität auf dem Papier nicht das
Entscheidende, sondern das Machen, das Tun, und dass es eben nicht
in allen Einrichtungen, in allen Schulen so aussieht, wie es aussehen
soll, das ist das Problem.
Es gibt neben den allgemeinen Problemen des Musikunterrichtes,
die in einer falschen Ausrichtung der Diskussion um die Qualität
von Unterricht generell liegen, natürlich auch einige musikspezifische
Schwierigkeiten, die sich etwa auch am Unterschied zwischen Kunst-
und Musikunterricht manifestieren lassen. Der Kunstunterricht ist
deutlich beliebter; das könnte den Grund haben, dass die Herstellungsschwelle
niedriger ist und jeder sich auch angesichts der Breite der bildenden
Kunst ein Stück weit weniger beeindruckt fühlen kann als
jemand, der im Musikunterricht nur mit hoch komplizierter Hochkultur
konfrontiert wird.
Die Mehrheit erreichen
Ein zweites Problem ist, dass die klassische musikalische Hochkultur
nicht unbedingt für alle Jugendlichen geeignet ist, weil sie
ein höheres Altersimage hat und weil sich auch, wie man mit
empirischen Untersuchungen zeigen kann, dieses Interesse erst zwischen
35 und 59 Jahren entwickelt (siehe oben). Das ist kein Widerspruch
zu der Tatsache, dass es viele Kinder und Jugendliche gibt, die
sich dafür begeistern lassen, aber man muss sich pädagogisch
offenbar recht viel Mühe geben, wenn man die Mehrheit erreichen
will und sollte diesen Bereich vielleicht eher neutral und eingebettet
auch in allgemeinere musikalische Interessen für das Machen,
Hören, Umsetzen und Verständigen einbauen.
Es gibt viel zu tun. Während im ersten Teil dieser Abhandlung
die guten alten Zeiten vorbei sind und ihr Vorübergehen als
neue Chance begriffen wird, muss im zweiten Teil bedauert werden,
dass die guten alten Zeiten der Unterrichtskunst vorbei sind. Im
ersten müssen wir aufbrechen zu neuen Ideen und in der globalisierten
Gesellschaft einen Unique Selling Point für die musikalische
Bildung finden, im zweiten Teil müssen wir für eine besonnene
Rücknahme hysterisch modernistischer Reformen im Schul- und
Unterrichtswesen plädieren und uns damit stärker an der
pragmatischen und empirischen Unterrichtsforschung orientieren.
Rainer Dollase
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