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Ausgabe 2004/12
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nmz 2004/12 | Seite 24
53. Jahrgang | Dez./Jan.
Musikvermittlung

Der Ort für die emotionalste Musik überhaupt

Der Film „Rhythm is it!“: das erste Education-Projekt der Berliner Philharmoniker

Mitte November, das „Bali“, Vorortkino in Berlin-Zehlendorf, 18.30 Uhr, die Schlange reicht bis auf die Straße, das Kino ist längst ausverkauft. „Rhythm is it!“ heißt der Publikumsmagnet. Nach der Werbung wird es wieder hell im Saal, die Betreiberin hält Ausschau nach freien Plätzen, einige wenige Glückliche rücken nach. Dann werden Stühle herein getragen. Ausnahmezustand in diesem Kino, das doch eigentlich ums Überleben kämpft gegen die Multiplex-Paläste.

Am 16. September war „Rhythm is it!“ bundesweit in die Kinos gekommen. Zwei Monate später läuft er noch immer und das bei wachsenden Zuschauerzahlen. Die 200.000er-Marke ist überschritten. „Das ist für einen deutschen Spielfilm schon eine tolle Zahl, aber jenseits aller Erwartungen, die man vernünftigerweise an einen Dokumentarfilm stellen kann, auch wenn man noch so sehr an ihn glaubt“, freut sich Regisseur Enrique Sánchez Lansch im nmz-Gespräch. Bis Weihnachten wird der Film auf jeden Fall in den Spielplänen bleiben.

Die Filmregisseure (v.li.): Thomas Grube, Enrique Sánchez Lansch.

Die Filmregisseure (v.li.): Thomas Grube, Enrique Sánchez Lansch.

Was für ein Film ist das, den so viele Menschen sehen wollen? In Kürze: einer der bewegendsten Dokumentarfilme des Jahres, ein liebevoll beobachtendes, ein sensibel und musikalisch geschnittenes Stück Filmkunst. Anfangs gedacht als Dokument über den Wandel der Berliner Philharmoniker unter ihrem neuen Chefdirigenten, ist es nun zugleich erschütternde Sozialstudie, wunderschöner Musik- und Tanzfilm und Manifest einer Vision.

Man erfährt vieles über Deutschland in diesem Film, über ein Land, in flächendeckender Depression, ein Land das sich lieber im Mittelmaß einrichtet, statt Leistung zu honorieren, ein Land, das seine Kultur vergisst und wegspart. „In Afrika haben wir noch eine Kultur“, sagt ein 16-jähriger Flüchtling im Film, „in Deutschland ist das nicht so. Das schließe ich daraus, wie die Menschen hier leben“. Man erfährt aber auch, wie schnell sich Hoffnung wecken lässt, wie man etwas verändern kann mit Ideen, Ausdauer und Disziplin.

„Rhythm is it!“ dokumentiert das erste große „Education“-Projekt der Berliner Philharmoniker. Sir Simon Rattle hat dem Orchester diese bis dahin vernachlässigte musikalische Basis- und Bildungsarbeit verordnet. Die auffallend jungen Musiker machen sie sichtbar gerne. Rattle kann „Education“ dank des potenten Sponsors Deutsche Bank auf einem Niveau realisieren, das anderen Berliner Orchestern versagt ist – den existenzbedrohten Berliner Symphonikern etwa, die seit Jahrzehnten Schulkonzerte anbieten.

Zukunft@BPhil

Rattle geht es allerdings um mehr als Musikunterricht im Konzertsaal. Er will Musik einem breiten Publikum anbieten. „Die Menschen brauchen sie wie die Luft, die sie atmen, und das Wasser, das sie trinken.“ Die Philharmonie, so erklärt er in einer der charismatischen Interviewsequenzen des Films, sei keine Diva, die man anhimmeln muss, sondern der Ort, an dem die emotionalste Musik überhaupt gemacht werde. Daran sollten alle Anteil haben. „Zukunft@BPhil“ heißt das Programm – und der Schlüssel zur Zukunft liegt für Rattle und seine Musiker in der Integration junger Menschen aus verschiedensten sozialen und ethnischen Milieus in der bankrotten Bundeshauptstadt.

Deshalb gehen die Philharmoniker jetzt regelmäßig in Schulen, deshalb versuchten sie Anfang 2003, Strawinskys „Sacre du printemps“ mit 239 Berliner Kindern und Jugendlichen auf die Bühne zu bringen. Ein Wagnis. Denn das Tanzensemble war in vielerlei Hinsicht heterogen: 25 Nationalitäten, Abiturienten und Lernbehinderte, erfahrene Tänzerinnen und Tänzer waren dabei, Grundschulkinder mit und ohne Tanzerfahrung, Jugendliche, die Musikinstrumente spielen, aber auch Hauptschüler ohne jeglichen Kontakt zu Tanz oder klassischer Musik.

Gut sechs Wochen Zeit hatten der englische Choreograph Royston Maldoom und sein Team, um daraus ein Ganzes zu formen. Das Filmteam von Grube und Sánchez Lansch hat diesen Prozess begleitet. Rund 200 Stunden Material haben sie gedreht: Proben der Philharmoniker, in den Schulen und Interviews mit Musikern, Lehrern, Teilnehmern. „Wenn wir versucht hätten, alle, die mit dem Projekt zu tun hatten, in den Film hinein zu nehmen, dann wäre das entweder ein Acht-Stunden-Film geworden, oder ein Film, der überall nur an der Oberfläche kratzt, aber überhaupt nicht in der Lage ist, das, was dieses Projekt ausmacht, diese Energie, diesen Prozess wirklich plastisch rüber zu bringen“, erklärt Sánchez Lansch, die im Film vorgenommene Fokussierung auf nur drei jugendliche Protagonisten, eine Schule und eine Tanzgruppe.

Entwicklungen

Jede Figur steht für eine ganz erstaunliche Entwicklung im „Sacre“-Projekt: Marie, 14 Jahre alt, in der Schule ohne wirklichen Antrieb, entfaltet im Tanzprojekt Ehrgeiz, traut sich sogar zu, in einer zweiten Gruppe mit zu tanzen. Unsicher inmitten von Fortgeschrittenen, Abiturienten – Marie nennt sie „Lernwütige“ – entdeckt sie ihr Potenzial. Martin, 19 Jahre alt, sucht das Tanzerlebnis vor allem für sich selbst, hält trotz innerer Barrieren durch, öffnet sich, lässt Nähe und Berührung zu und entdeckt im Tanz eine neue bewegende Ausdrucksmöglichkeit.

Olayinka schließlich, 16 Jahre alt, ist Flüchtling aus Nigeria, beide Eltern wurden im Bürgerkrieg ermordet. Deutsch kann er kaum, er ist gerade einige Monate in Berlin. Er sucht die Herausforderung, will lernen, muss lernen, um zu überleben. Sein Bewegungstalent eröffnet die Chance zur Integration. Auch er könnte in einer fortgeschrittenen Gruppe tanzen. Das jedoch scheitert an der kleinkarierten Frage, wo der Junge zweieinhalb Stunden Wartezeit überbrücken soll, scheitert an den Bedenken seiner Lehrerin: „Nein, das ist nicht gut für ihn.“ Hier schlägt man im Kino die Hände über dem Kopf zusammen, mag nicht glauben, dass Pädagogen eine solche Chance ungenutzt lassen.

Dem gegenüber steht die Vision des Choreographen Royston Maldoom: „You can change your life in a dance-class.“ Maldoom hat selbst erlebt, wie Tanz sein Leben verändert hat. Das macht ihn für die Jugendlichen glaubwürdig. Er ist kein lebensferner Künstler, er ist leidenschaftlicher Pädagoge. Als solcher fordert er, gibt sich nicht schnell zufrieden, übt scharfe Kritik – ungewohnt für die meisten Schüler, das weiß er: „Für diejenigen, die noch nicht mit mir gearbeitet haben, wird es ein Schock sein.“

Es ist ein heilsamer Schock! Dass man sich anstrengen müsse, um etwas zu erreichen, das scheint nicht Teil ihrer Erfahrungen zu sein, diagnostiziert Maldoom.

Am Beispiel der Heinz-Brandt-Oberschule zeigt der Film den Fortschritt und auch die Probleme. Es gibt Rückschritte, das Projekt droht zu scheitern, es gibt Unverständnis gegenüber dem Lern- und Übeprozess. Es wächst jedoch auch eine Dynamik in der Gruppe. Die Veränderung ist unübersehbar. In eindrucksvollen Schnitten und Filmsequenzen kann man den Forschritt der Schüler erleben, in der Hauptschule ebenso wie in der Tanzschule. Das alles ist sensibel mit Strawinskys Musik unterlegt, deren emotionale Kraft und Vielfarbigkeit die Spannung des ganzen Projekts auf den Film überträgt.

Die Aufführung in der Arena Treptow vor rund 3.000 Zuschauern ist Zielpunkt von Projekt und Film. Hier und in Probensequenzen erweitern die Regisseure den Fokus, bringen alle beteiligten Gruppen in den Film. Wer die ganze „Sacre“-Aufführung im Film erwartet, wird enttäuscht – vier von fünfunddreißig Minuten stehen am Ende von „Rhythm is it!“. Vier Minuten aber, die genug zeigen, um die anfangs kaum vorstellbare Wandlung der Workshop-Teilnehmer zu erleben.

„Wenn es ein Projekt gibt, bei dem der Weg das Ziel ist, dann ist es dieses Projekt. Auch wenn natürlich alles auf das Ziel der Aufführung zustrebt und man sich die ganze Zeit fragt, ob die das überhaupt hinkriegen, wie wird das nachher aussehen, wie ist das Ergebnis, so hätte es doch die Balance des ganzen Films ungünstig verändert, wenn wir die ganze Aufführung hinein genommen hätten“, erklärt Enrique Sánchez Lansch zur Dramaturgie.

Die Medien

Film und Aufführung werden 2005 als Doppel-DVD erscheinen. Schon jetzt bietet die Internet-Seite zum Film Hintergrund-Informationen. Das Gästebuch kündet von der Wirkung des Films und neu eingerichtete Foren ermöglichen den Austausch unter all denen, die vom Geist dieses Projekts angesteckt sind und ihre musikalisch-tänzerische Jugendarbeit intensivieren möchten.

Dieser Film trifft einen Nerv in einem Land, das neue Wege sucht nach Pisa-Schock und Wirtschaftskrise. Wer dem „Sacre“-Projekt vorwirft, es sei nur ein teures Vorzeigeprojekt ohne Nachhaltigkeit, macht es sich zu einfach. Denn erstens steht es nicht allein und zweitens lautet die entscheidende Botschaft: Es sind nicht Geld, fantastisches Orchester oder Dirigent, die so ein Projekt möglich machen. Es ist in erster Linie der Geist der Beteiligten, es ist die Bereitschaft, nicht bequem in selbst gesteckten engen Grenzen zu verharren. Umdenken kostet kein Geld, allenfalls Kraft! Und die kann man reichlich tanken in „Rhythm is it!“.

Christian Schruff

Rhythm is it!

Film, CD, nächstes Projekt
Rhythm is it!, Deutschland 2004
Regie/Buch: Thomas Grube, Enrique Sánchez Lansch (siehe unser Foto)
Laufzeit 100 min
www.rhythmisit.de
– mit Galerie, Gästebuch, Newsletter, Diskussionsforum, Kinoliste
Choreograph: Royston Maldoom
www.dance-united.com

Soundtrack
CD: Naxos, BPH 0401
SACD/Hybrid: Naxos, BPH 0451
= erste Einspielung von Stravinskys „Sacre” mit den Berliner Philharmonikern und Sir Simon Rattle. Enthält auch Rhythm is it!-Filmmusik von Karim Sebastian Elias, eingespielt mit der Akademie der Berliner Philharmoniker, und den Titelsong „Versteck dich nicht!” von den Wickeds

Nächstes Tanz-Projekt der Philharmoniker mit Kindern und Royston Maldoom:
Strawinsky: „Feuervogel”
22. und 23.4.2005, 19.30 Uhr, Arena Treptow, Berlin
www.berliner-philharmoniker.de

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