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nmz-archiv
nmz 2004/12 | Seite 46
53. Jahrgang | Dez./Jan.
Bücher
Katerfrühstück im Schlumpfenland
Wie Ex-Manager Tim Renner die Branche zum Nachdenken bringt
Tim Renner: Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm! Über
die Zukunft der Musik- und Medienindustrie, Campus Ver-lag,
Frankfurt 2004, 303 S., € 19,90, ISBN 3-593-37636-9
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Tim Renner und kaufen Sie als Zubehör eine Flasche Champagner
(vom Weinhändler um die Ecke), eine kleine Auswahl leckerer
Antipasti (vom italienischen Feinkosthändler nebenan), eine
Kotztüte (im Flieger abgreifen), Kopfschmerztabletten, Salzbrezeln
von Lidl, Müsli, Obst und ein Straßenbahnticket zu einem
Park nahe Ihres Bankenviertels. Der ideale Zeitpunkt für die
Lektüre ist ein sonniger Freitagmittag, neben Ihnen auf der
Parkmauer breiten Sie Häppchen und Plastikgläser aus,
das Handy drehen Sie auf volle Lautstärke (Klingelton: „Der
Schlumpfentanz“). Stürzen Sie sich gut vermummt in eine
Lektüre, wie Sie diese im Musikbusiness kaum abenteuerlicher
finden können.
Tim Renner ist mit seinem Autorendebüt „Kinder, der
Tod ist gar nicht so schlimm! Über die Zukunft der Musik- und
Medienindustrie“ ein famoser Streich gelungen. Ich glaube
das beurteilen zu können, weil mir das Wirtschaftsstudium den
Konsum einer halben Bibliothek auferlegte und sich ein Außenstehender
kaum ausmalen kann, wie verworren und langweilig sich Managementexperten
in der Regel auszudrücken pflegen. Renner, der ehemalige Deutschlandchef
des Branchenführers Universal, packt die Herausforderung vollkommen
anders an. Er schreibt die Geschichte der Musikindustrie als hintergründige
und spannende Reportage, voller Aha-Erlebnisse und unter Einbeziehung
der eigenen Perspektive. Selbst komplizierte Sachverhalte wie Marketingkalkulation
in Musikdiscountern kriegen Pfiff, wenn Renner dabei Schleier für
Schleier rund um das eigentliche Kernthema lüftet.
Am Anfang steht „Das Paradies“. Tim Renner steigt
Mitte der 80er bei Polydor als Junior Artist & Repertoire Manager
ein und stürmt die Karriereleiter hoch. Noch zwanzig Jahre
später überträgt dieses Kapitel die freche Vibration
der Einstiegseuphorie. Renner sieht sich als Schlussläufer
einer legendären Management-Staffel: Siggi Loch, Chris Blackwell,
Ahmed Ertegun… Er preist Neonröhren, Sexualität
und Abgrenzung und zitiert schließlich seine erste Entdeckung
Element of Crime: „You fucked up your life, why don’t
you smile?“.
Tim Renner erinnert an Fanzines, an Radiosender mit eigenverantwortlichen
Redakteuren und an die massenhafte Infiltration des Mainstreams
durch den Underground. Er beschreibt wie ihm die Augen bei der Arbeit
zu leuchten begannen, man erlebt dieses Gefühl beim Lesen noch
einmal nach und greift gefesselt und ohne aufzuschauen in die Schale
mit den eingelegten Artischocken und zum Schampus. Manager eilen
dem Feierabend entgegen und der Park beginnt sich zwischen den Strahlen
der versinkenden Wintersonne zu füllen. Wir lesen vom Sündenfall
und reiben uns die Augen bei der Erinnerung an eine Zeit, als die
CD zu phantastischen Margen von 20 Prozent führte und die Musikindustrie
zum Objekt von Spekulanten wurde. Anfang der 90er-Jahre wurden in
allen Bereichen Manager und Controller installiert (die so genannte
Professionalisierung), um die „Abläufe von starren, computerisierten
Kalkulations- und Buchungsprogrammen abhängig zu machen, Zeitabläufe
nach strikten und logischen Regeln zu steuern, die sich streng an
Medien und Charts orientieren...“ Renner schlägt sich
seitenlang mit Beraterfirmen herum, die ihre Daten im indischen
Bangalore über Nacht erstellen lassen und protzigen Businessmeetings
in Kanada, wo die Prognosen den Anforderungen angepasst werden wie
einstmals in der Planungskommission der DDR. Das neue Formatradio
und der Boom der Hit-Compilations bei den Fernsehsendern lassen
den Aufbau von Künstlern mit dauerhaftem Wert nicht mehr zu.
„Der Kollaps ist unausweichlich.“ Nach einer Flasche
Champagner einsam im Laternenlicht werden Sie dieses Gefühl
mühelos teilen.
Im folgenden Kapitel – das darf ich vorwegnehmen –
wird Ihnen kalt und schließlich schlecht werden. Sie vermeiden
den Einsatz der Kotztüte, wenn Sie es rechtzeitig zu den Sanitäranlagen
eines naheliegenden Centers schaffen. Diese Zwischenstation passt
gut zur Lektüre, denn das Kapitel „Die Vertreibung aus
dem Paradies“ erzählt praktisch nur noch von Technik
und den großen Kämpfen um die Verwertung im digitalen
Zeitalter. Der Handel von Musikrechten von TV bis Handy wird schockierend
detailreich offengelegt, Menschen kommen hier nur noch am Rande
oder gar nicht mehr vor. Wenn Sie also beim Lesen auf einen Media
Markt blicken und Ihren Magen mit Salzgebäck aus dem benachbarten
Lidl beruhigen, liegen Sie genau richtig. Falls Ihnen dabei ein
alkoholisierter Obdachloser in den Ohren liegt, erhaschen Sie einen
Hauch vom Originalgefühl, das den Aufbau legaler Musiktauschbörsen
prägte.
Es ist Zeit für das Bett und die Kopfschmerztabletten. Am
Samstagmorgen reservieren Sie sich Zeit für ein gesundes Frühstück,
denn das letzte Kapitel heißt „Inhalt – Kapital
– Verantwortung“ (bitte nicht lachen, sondern Obst ins
Müsli schneiden). Renner behauptet, dass Plattenfirmen in einer
digitalen Welt überflüssig sind und Musiker ihr Schicksal
in die eigene Hand nehmen müssen. Als Zeugen führt er
Rammstein, Grönemeyer und viele andere Stars ins Feld, die
sich der Musikgiganten nur noch zum Vertrieb ihrer Produkte bedienen
und ansonsten Management, Produktion, Verlagsgeschäft und Marketing
in eigener Sache betreiben. „Unser Vertrag war der Anfang
vom Ende der Majors“, wird der Manager der Toten Hosen zitiert.
Spätestens jetzt sind Sie nüchtern und sehr nachdenklich.
Es stört Sie kaum, wenn sich das Buch auf den letzten Seiten
zerfranst. Sie werden abwesend auf den Buchdeckel starren und beim
Klingeln des Handys aus allen Wolken fallen. „Jawohl“,
werden Sie zu sich selbst sagen, bevor Sie Ihren Anrufer begrüßen,
„das neue Jahr bricht an, ich bin der Oberschlumpf und mein
blaues Netzwerk wird die Menschheit zum Tanzen bringen!“