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nmz-archiv
nmz 2004/12 | Seite 45
53. Jahrgang | Dez./Jan.
Rezensionen
Dokumente, biografische Zeugnisse, Sammlungen
Die Buchumfrage der neuen musikzeitung 2004: Persönlichkeiten
des Musiklebens empfehlen Neuerscheinungen
Sie hat bereits eine jahrzehntelange Tradition: die Buchumfrage
der nmz mit Empfehlungen zur Weihnachtszeit. Wir wünschen unseren
Leserinnen und Lesern viel Spaß beim Schmökern…
Wissenschaft und Forschung
Ulrich Dibelius (Hg.): Karl Amadeus Hartmann – Komponist
im Widerstreit, Bärenreiter, Kassel 2004, 348 Seiten, €
29,95
Mit so qualifizierten Co-Autor/-innen wie Frau und Sohn Hartmann,
C.L. Brehler, Barbara Haas, Hanns-Werner Heister, Hartmut Lück,
Egon Voss und Barbara Zuber hat der jetzt 80-jährige Ulrich
Dibelius zum 100.Geburtstag von Karl Amadeus Hartmann (5. August
2005) die wahrscheinlich wesentlichste Textsammlung herausgebracht.
Peter Michael Hamel, Hochschule für Musik und Theater,
Hamburg
Peter Gülke: Guillaume Du Fay. Musik des 15. Jahrhunderts,
Metzler, Stuttgart 2004, 500 Seiten, € 39,95
Kulturgeschichtsschreibung auf höchstem Niveau. Hans Zender, Dirigent und Komponist
Brigitte Röthlein: Die Quantenrevolution, dtv, München
2004, 230 Seiten, € 14,50.
Diese Buch ist spannend geschrieben, verständlich auch
für Musiker und Komponisten, stofflich breit angelegt. Gerade
die Eigenschaft gleichzeitiger Überlagerungen (Qubit) bietet
eine Möglichkeit, in die Tonwelt neuartig einzudringen und
endlich den etwas anderen Avantgardisten des 20. Jahrhunderts,
Claude Debussy, modern und schöpferisch in die Zukunft gerichtet
zu verstehen, weil seine Tonalität nicht mehr hinderlich
ist: Gleichzeitige Überlagerungen verschiedener Tonwerte
(z.B. f und eis), große Reichweite einzelner Töne,
nicht mehr nur an den Notenkopf „vor Ort“ gebunden
„thalassale Regression“ und viele andere, neue Chancen
des Hörens. Nicolaus A. Huber, Professor für Musiktheorie und Komposition
an der Folkwang-Hochschule Essen
Christian Kaden: Das Unerhörte und das Unhörbare.
Was Musik ist, was Musik sein kann. Bärenreiter/Metzler,
Kassel/Stuttgart 2004, 328 Seiten, € 29,95
Eine Geschichte der europäischen Musik von der griechischen
Antike bis zur Gegenwart, unüblich betrachtet und reflektiert
in einem geweiteten, außereuropäische Musikkulturen
einbeziehenden Horizont. Viele eingeschliffene Sichtweisen und
Bewertungen werden aufgesprengt. Kaden schreibt mit Furor und
Biss – eine aufregende Lektüre. Ulrich Mahlert, Universität der Künste Berlin
Kultur- und Bildungspolitik
Hans Zender: Die Sinne denken. Texte zur Musik 1975–2003,
Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2004, 368 Seiten, €
48
Ein hochbedeutender Komponist und Dirigent und brillant Schreibender
legt so etwas wie eine Summe vor – gerade auch darin, dass
er seine Tätigkeiten und sein Denken als nicht abschließbar
dokumentiert. Dies geschieht in einem großen Themenkreis
zwischen biografischem Bericht, Rechenschaften über eigene
Kompositionen, dem Entwurf eines neuen Tonsystems und kulturpolitischen
Stellungnahmen. Überall erweist Zender sich ebenso als mit
heißem Herzen Bekennender wie als präzise Argumentierender.
In seinem intellektuellen und moralischen Anspruch wie in der
Autorisation durch einen Musiker von nahezu unvergleichlicher
Universalität sucht das Buch seinesgleichen. Peter Gülke, Dirigent
Peter Röbke: Musikschule – wozu? Warum eine Musikschule
-dem Land/ -der Gemeinde/ -dem Bürgermeister/ -dem Lehrer/
-den Schülern/ -den Eltern/ -dem Leiter lieb und teuer sein
sollte, Volkskultur Niederösterreich Betriebs GmbH, Atzenbrugg
2004, 237 Seiten, € 16,50
Dem Autor – selbst langjähriger Musikschulleiter
– merkt der Leser bei jeder Zeile die eigene Begeisterung
für Musik und die Liebe zum Unterrichten an. Als überzeugter
Verfechter der Musikschulidee beleuchtet er die „Begegnungsstätte
Musikschule“ unter allen erdenklichen Blickwinkeln: was
Musizieren für Menschen bedeuten kann, von musikalischer
Intelligenz und Begabung, von der fruchtbaren Wirkung des Zusammenspiels,
vom Üben und Vorspielen, vom „Bildungskanon“
und von Elternerwartungen.
Der Band ist kein Handbuch für Instrumentallehrer. Lebendig
geschrieben, mit vielen O-Tönen, Fotos und Schilderungen
aus der Praxis wird er der breitgefächerten Adressatengruppe
(siehe Untertitel) gerecht und vermittelt vor allem eins: Lust
auf Musikschule.
Rainer Mehlig, Geschäftsführer Verband deutscher Musikschulen
e.V.
Peter Martin u. Christine Alonzo (Hg.): Zwischen Charleston
und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus, Dölling
und Galitz Verlag, Hamburg – München 2004, 790 Seiten,
E 29,80
Mit der Rassenpolitik der Nazis assoziiert man fast ausschließlich
die Judenverfolgung. Übersehen wird die Verfolgung der Schwarzen.
Dabei hatten
Künstler wie Josephine Baker und Paul Robeson oder die Titelfigur
der Oper „Jonny spielt auf“ einmal als Idole vieler
Deutscher gegolten. Die 34 Beiträge des reich bebilderten
Bandes, die sich etwa dem Umgang mit Schwarzen in deutschen KZs
oder beim Afrika-Feldzug widmen, schließen diese Wissenslücke. Albrecht Dümling, Musikwissenschaftler und -kritiker
Daniel Barenboim/Edward Said: Parallelen und Paradoxien,
Berlin Verlag, Berlin 2004, 254 Seiten, € 19,90
Kultur kann Frieden stiften, Sprache politische Gräben
überwinden. „Parallelen und Paradoxien“ gibt
Einblicke in eine tiefe Freundschaft, zeigt Daniel Barenboim und
Edward W. Said, den großen israelischen Musiker und den
palästinensischen Gelehrten und Experten des Nahen Ostens,
im Gespräch. Beiden ist die Musik eine alles verbindende
Ordnung, die für sie vor allem Bewegung und Begegnung bedeutet,
den Kontakt mit dem anderen, dem vermeintlich Fremden. 1999 führten
sie in ihrem „Weimarer Experiment“ erstmals arabische,
israelische und deutsche Musiker zu einem Orchester zusammen und
schufen Frieden auf kleinem Raum. Musik muss gespielt, Ideen müssen
ausgesprochen werden. So lautet das Credo dieses Buches, und beispielhafte
führen Barenboim und Said uns hier die Bedeutung und die
Fruchtbarkeit von unmittelbarer Begegnung und gegenseitigem Austausch
vor. Michael Haefliger, Intendant Lucerne Festival
Pädagogik/Schule
Ludwig Striegel: Weltmusik I, Klett, Leipzig 2004, 48 Seiten,
€ 8,80
Unterrichts- und Materialbuch für den Musikunterricht;
unterrichtspraktisch, hervorragende Ausarbeitung eines hochinteressanten
aber bislang in der Literatur vernachlässigten Themenbereich,
mit CD. Markus Köhler, Vorsitzenden des Verbandes Bayerischer
Schulmusiker
Minna Ronnefeld/Hermann Regner (Hrsg.): Gunild Keetman.
Ein Leben für Musik und Bewegung, Schott Musik international,
Mainz 2004, 265 Seiten, Euro: 39,95, plus DVD
Zum 100. Geburtstag von Gunild Keetman erschien dieses Buch,
das anhand von Texten, zahlreichen Fotos und ausführlichem
Dokumentationsmaterial ein facettenreiches Lebensbild der Künstlerin
und Pädagogin zeichnet. Gunild Keetman (1904–90) war
Mitautorin des „Orff-Schulwerks“, Dozentin an der
Günther-Schule in München und Mitbegründerin des
bekannten Orff-Instituts in Salzburg. Ihr international anerkanntes
pädagogisches und kompositorisches Werk ist bis heute wirksam
und aktuell. Zum Buch gehört eine DVD mit hochinteressanten
Tondokumenten und Filmausschnitten. – Eine besondere, sehr
persönliche Biografie, in der zahlreiche Zeitzeugen zu Wort
kommen! Peter Hanser-Strecker, Schott Musik International
Sachbuch
Christian Kaden: Das Unerhörte und das Unhörbare.
Was Musik ist, was Musik sein kann, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart
2004, 329 Seiten, € 29,95
Diese Buch vereinigt in seltener Weise nahezu eine Gesamtschau
der Musik und eindringliche Detailbetrachtungen, philosophisch-ästhetische
Ansprüche und anschaulich-essayistische Darstellungsformen,
soziologische und musikanalytische Aspekte, stupende Gelehrsamkeit
und originellen Zugriff. Ein wahres Feuerwerk gedanklicher Neuansätze
desavouiert bequeme Denkschablonen und alles bequeme Kulturbesitzertum
und beleuchtet Musikgeschichte. Ein so kluges und umfassendes
Hohelied auf die Notwendigkeit der Musik ist lange nicht gesungen
worden. Peter Gülke, Dirigent
Das Buch „Engagiert für Kultur“ zeigt mit seinen
Best-Practice Beispielen unter anderem aus dem Bereich der Musik,
wie ehrenamtliche Mitarbeit gewinnbringend für beide Seiten
in der Kultur eingesetzt werden kann. Die Bandbreite der aufgeführten
Institutionen geht von großen öffentlich-rechtlichen
Häusern wie der Staatsgalerie Stuttgart bis hin zur Musik
in der Kirche und der ehrenamtlichen Arbeit im Musik-Verein. Damit
wird die Wichtigkeit des Themas unterstrichen. Trotzdem wird ebenso
deutlich, welch großes Entwicklungspotenzial das Thema Ehrenamt
in der Kultur noch hat. Gesa Birnkraut, Geschäftsführerin Birnkraut/Hein,
Arts & Business Consultants
Manuel Brug: Die neuen Sängerstimmen (von Cecilia Bartoli
bis Bryn Terfel), Henschel, Berlin 2003, 319 Seiten, €
24,90
Ein ebenso notwendiges, wie gerade deshalb leider auch ärgerliches
Buch: Die beiden Standard-Nachschlagewerke über die großen
Opernsänger von Jürgen Kesting und Jens Malte Fischer
sind zeitlich stehen geblieben und nicht neu aufgelegt, so dass
eine empfindliche Lücke entstanden ist, die der Musikredakteur
Manuel Brug mit seinem in einen künstlerbiografischen und
einen discografischen Teil gegliederten Buch zwar dankenswerterweise
einigermaßen schließt, das aber in seinem Tagesjournalisten
Tonfall dem Gegenstand nicht gerecht wird („gut gepierct
ist halb gesungen“).
Dennoch widerspiegelt die Präsentation von rund 300 nach
der Mitte des vorigen Jahrhunderts geborenen Opern- und Kunstlied-Sängerinnen
und -Sängern den Zustand der Gesangskultur im heutigen Musiktheaterbetrieb,
die nicht mehr von der Ensemblearbeit geprägt wird, sondern
von den bestenfalls von Dirigenten, meist aber von Agenturen und
Plattenfirmen gesteuerten Einzelkämpfern. Stefan Meuschel, Vereinigung deutscher Opernchöre und
Bühnentänzer
Luke Crampton & Dafydd Rees: Rock & Pop. Die Chronik
1951 bis heute, Dorling Kindersley, Starnberg 2003, 598 Seiten,
€ 49,90
Packende, weil unmittelbar auf vielfältigem Bildmaterial
und zahlreichen Zitaten beruhende Dokumentation der Entwicklung
des Pop und Rock. Martin Maria Krüger, Deutscher Musikrat
Christiane Teewinkel: Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert
langweile? DuMont, Köln 2004, 272 Seiten, € 17,90
Die Autorin stellt die richtigen Fragen („Muss ich das
Programmheft lesen“, „Warum sind Konzerte so teuer?,
Was verdienen Musiker?“ oder „Warum hört sich
Neue Musik oft so anstrengend an?“) und gibt Antworten,
die auch dem Musikprofi eine neue oder zumindest veränderte
Sicht auf die Dinge des „Musikbusiness“ geben können.
Das heutige Musikleben wird von so vielen unterschiedlichen Seiten
beleuchtet, dass die Lektüre eine wahre Wonne ist.
Gerald Mertens, Geschäftsführer Deutsche Orchestervereinigung
Biografisches
Ulrich Dibelius (Hg.): Karl Amadeus Hartmann – Komponist
im Widerstreit, Bärenreiter, Kassel 2004, 348 Seiten, €
29,95
Profunde Kenner porträtieren einen großen Komponisten,
der Haltung bewahrte, als die Dummheit regierte und Werke schrieb,
ohne die wir ärmer wären. Michael Karbaum, GEMA Stiftung
Thomas Quasthoff: Die Stimme. Autobiographie, Ullstein,
Berlin 2004, 336 Seiten, € 24
Amüsant, frech und einfach wunderbar! Bei weitem das beste
Buch seiner Art. Manfred Trojahn, Komponist
Internationales Festival the next generation II, Künstler
des einundzwanzigsten Jahrhunderts spielen hundert Meisterwerke
der Kammermusik, Harenberg, Dortmund, 240 Seiten, € 10
Die Texte und Bilder vermitteln ein larmoyanzfreies und höchst
engagiertes Bild junger Musikerinnen und Musiker, die einer Vertiefung
der sogenannten Klassik-Krise nicht den Trauermarsch blasen. Vielmehr
spielen sie engagiert an gegen das mitteleuropäische Gejammere.
In diesem Band finden sich informative Biografien von Nachwuchskünstlern,
die noch nicht jeder herunterbeten kann. Daneben gibt es gute
Info-Artikel zu den jeweiligen Programmen – exzerpiert aus
den bewährten Publikationen des Hauses Harenberg. Dergestalt
füllt sich ein musikalisches Buch, das unbändig Lust
macht auf Musik pur.
Ursula Schneewind: Jede Note an dich gerichtet. Musikalische
Widmungsgeschichten, Karl Blessing Verlag, München 2004, 416
Seiten, € 19
Ursula Schneewind gelingt in jeder ihrer musikalischen Widmungsgeschichten
eine in sprachlicher Vitalität sprudelnde Verknüpfung
von Komponist und jeweiligem Zeitgeist in der jeweils aktuellen
politisch-gesellschaftlichen Lage. Das ist dann mehr als ein sittenstrenges
Bild ästhetischer (und realer) Machtverhältnisse. Einfühlsam
aus dem Wissensstand von heute heraus rekonstruiert und für
ein heutiges Bewusstsein nachvollziehbar und sinnlich gefasst.
Es gelingen neue Sichten auf Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus
Mozart, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Richard Wagner,
Gustav Mahler, Alban Berg und Arnold Schönberg. Wolf Loeckle, Bayrischer Rundfunk
Ingeborg Bachmann/Hans Werner Henze: Briefe einer Freundschaft,
Herausgeber: Hans Hölle, Piper, München/Zürich 2004,
537 Seiten, € 24,90
Das jetzt erstmals zugängliche einzigartige Dokument einer
Künstlerfreundschaft. Jenseits der biografischen Zeugnisse
ein faszinierendes „The Making Of“ einiger zentraler
Opern von Hans Werner Henze. Peter Ruzicka, Salzburger Festspiele
Kulturgeschichte
Peter Andreas/Michael Fischer: Gräber unsterblicher Komponisten,
Bärenreiter, Kassel 2003, 91 Seiten mit zahlreichen Photos,
€ 24,95
Das Buch ist in keines der üblichen Schemata einzuordnen,
am ehesten noch unter „Kulturgeschichte“. Die Autoren
haben auf Europas Friedhöfen die Gräber von 37 berühmten
Komponisten aufgesucht und fotografiert. Der Band vermittelt eine
bedrückende und zugleich bewegende Atmosphäre. Es ist
aber auch ein romantisches Buch, hilfreich für eine krypton-romantische
Zeit, die sich mit der Spannung zwischen dem Schein ewig unsterblicher
Jugend und der Realität des Älterwerdens und Vergehens
schwer tut. Früher hätte man es wohl ein „Memento
mori“ genannt… Stefan Klöckner, Professor für Gregorianik und Liturgik
Essen