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nmz-archiv
nmz 2005/02 | Seite 45
54. Jahrgang | Februar
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Adieu Kulturauftrag
Die langfristige Umkrempelung der ARD-Orchesterlandschaft nimmt
klarere Konturen an. Nach dem ersten dumpfen Rumoren vor einigen
Monaten in Donaueschingen liegt der Öffentlichkeit nun eine
Vorlage von SWR-Intendant Peter Voß über die „Zukunft
der SWR-Klangkörper“ vor, die er im Dezember dem Rundfunkrat
präsentierte. Es ist mehr als ein rhetorischer Versuchsballon.
Aus dem sorgfältig argumentierenden, langfristige Perspektiven
umreißenden Text gehen zwei Dinge hervor: Es handelt sich
um eine klare Strategie für das nächste Jahrzehnt, und
Voss spricht nicht nur für den SWR, sondern für die ganze
ARD.
Geplant ist nichts weniger als ein Paradigmenwechsel. Das Ziel
ist der Abbau der Klangkörper und Veranstalterkapazitäten
und die Konzentration auf die „Vermittlung“, um Geld
zu sparen. Die Rechnung lautet: Die acht Sinfonie- und vier Rundfunkorchester,
fünf Chöre und vier Big Bands kosten pro Jahr 170 Millionen
und bringen weniger als 15 Millionen ein. Mit den eingesparten 155
Millionen ließe sich die Haushaltkrise ein wenig abfedern,
die durch den schleichenden Kaufkraftverlust verursacht wird. Laut
Voß wächst er für den SWR bis 2008 auf jährlich
fast 30 Prozent an.
Den schwarzen Peter kann der Intendant mühelos den Politikern
zuschieben, die in einer verfassungsrechtlich bedenklichen Aktion
der ARD die nötige Gebührenerhöhung verweigert haben.
Und in der Tat haben die Initiatoren dieser Politik, Steinbrück,
Stoiber und Milbradt, alle Chancen, als die drei Ministerpräsidenten
in die Geschichte einzugehen, die durch unüberlegtes Handeln
eine weltweit einmalige Orchesterlandschaft erfolgreich zum Austrocknen
gebracht haben.
Selbstverständlich wird es Auffangstrategien mit neuen Finanzierungsmöglichkeiten
geben. Ein bis zwei Orchester werden schon aus Prestige-, ein ostdeutsches
aus politischen Gründen erhalten bleiben. Dasjenige des BR
könnte mit einem von Columbia Artists zur Verfügung gestellten
Glamourdirigenten auf internationalen Tourneen den Ruhm der ARD
verbreiten, das zusammengelegte SWR-Orchester als Spezialtruppe
für Schwieriges die südliche Festivalschiene zwischen
Salzburg und Donaueschingen und außerdem wie bisher einige
Städte bedienen. Der WDR macht ein Joint Venture mit RWE und
Gazprom und baut mit seinem Orchester die kulturelle Partnerschaft
mit Russland aus. Siemens sponsort ein Berliner Orchester und gibt
der jungen chinesischen Avantgarde ein Chance. Möglichkeiten
zur Neugestaltung gibt es viele. Die Frage ist nur, welchen Interessen
sie folgen, musikalischen oder geschäftlichen.
Doch zunächst kommt der in der Wirtschaft übliche Mechanismus
in Gang: Die Manager vor Ort müssen ihre Betriebe an die geänderten
Rahmenbedingungen anpassen, und was sich nicht rechnet, muss über
Bord. Aufhalten wird diesen Prozess niemand, die zu erwartenden
Einsprüche sind im Grundsatzpapier von Intendant Voß
schon mitgedacht. Die sich formierende Protestfraktion wird vorsorglich
schon einmal als kleine wohlhabende Klientel von Privilegierten
abgetan, der Kulturauftrag der ARD gegen den Bildungsauftrag ausgespielt.
Als ob das zu trennen wäre. Der Begriff des Kulturauftrags
selbst wird strategisch uminterpretiert und auf einen Vermittlungsauftrag
reduziert. Zweifellos hat das Bundesgericht nie vorgeschrieben,
dass und wie viele Orchester die ARD unterhalten soll. Die Kasuistik
ist dennoch beachtlich, mit der die entsprechenden Urteile relativiert
und durch den Verweis auf die Historizität der Rechtssprechung
andeutungsweise als überholt bezeichnet werden.
Das Reformmuster, dem die ARD folgt, bedeutet nicht nur einen
lebensgefährlichen Aderlass für eine ohnehin schon kränkelnde
Musikkultur. Es verrät darüber hinaus einen Dammbruch
grundsätzlicher Art. Das neue ökonomische Denken, das
heute ganze Weltkulturen aufrollt, macht sich nun auch in Deutschland
erfolgreich über die kulturelle Substanz her.
Voraussetzung dazu war das Verschwinden der tradierten Werte aus
dem Bewusstsein. Sie konnten sich nach den zwölf Jahren Nazidiktatur
in den Köpfen nicht wieder verankern und wurden nach 1968 unter
der Parole des Fortschritts endgültig erledigt. Nun wird, unter
den wohlwollenden Augen der Politik, Stück um Stück auch
die institutionelle Basis geschleift.
Die bunten westdeutschen Nachkriegs-jahrzehnte mit ihrem kulturellen
Boom und ihrer vergeblichen Identitätsfindung entpuppen sich
aus dieser Sicht zunehmend als Phase des Übergangs. Die Reise
geht längst woanders hin, und wir schauen weg. Wir schrecken
höchstens auf, wenn wieder einmal ein Orchester verschwindet.