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nmz-archiv
nmz 2005/02 | Seite 45
54. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Musik soll für alle überall verfügbar sein
Die Musiksammlungen der National Library of Australia
Als die australischen Staaten, an ihrer Spitze Victoria, New South
Wales und Queensland vor gut 100 Jahren in Melbourne eine gemeinsame
Bundesregierung einrichteten, etablierten sie dort auch eine parlamentarische
Bibliothek mit einem Mitarbeiter. Neben historischen Abhandlungen,
Gesetzbüchern und Zeitungen fanden sich in dieser bescheidenen
Sammlung einige belletristische Bücher zur Unterhaltung der
Parlamentarier. Musik spielte keinerlei Rolle. Auch nach dem Umzug
von Melbourne in die neue Hauptstadt Canberra, wo die Parlamentsbibliothek
zur Nationalbibliothek wurde, schenkte man der Tonkunst keine Aufmerksamkeit.
Der National Library of Australia stand zwar die Library of Congress
in Washington als leuchtendes Beispiel vor Augen; aber es sollte
noch bis zum Jahr 1973 dauern, bis sie eine eigene Musikabteilung
erhielt.
Die Musikabteilung in Canberra ist ein Kind des kulturellen Aufbruchs
der frühen 70er-Jahre, der „Withlam Years“ (benannt
nach dem 1972 gewählten Labour-Premier Edward Whitlam). Noch
mehr als die Literatur und Malerei des Landes segelte die australische
Musik bis dahin im Windschatten des „Mutterlands“, weshalb
ehrgeizige australische Musiker und Musikwissenschaftler oft gleich
nach London übersiedelten. In den Whitlam Years kehrten einige
von ihnen zurück und halfen dem Land, sich auch geistig auf
eigene Füße zu stellen. Nachdem Roger Covell 1967 die
erste Musikgeschichte Australiens vorgelegt hatte, begann man auch
an der National Library die Defizite zu bemerken. Waren bis dahin
Noten und Musikbücher eher zufällig in ihren Besitz geraten,
so entschloss man sich 1968 erstmals zum Ankauf eines größeren
Musikalienbestandes.
Es handelte sich um die Sammlung des Buchhändlers und Musikkritikers
Kenneth Hince mit umfangreichen Materialien zum australischen Musikleben.
Der in Adelaide lehrende Musikwissenschaftler Andrew McCredie wurde
beauftragt, diese Sammlung zu bewerten und zugleich Ideen für
ein nationales Musikarchiv zu entwickeln. In einem Projektpapier
forderte er eine genreübergreifende Sammlung gedruckter und
ungedruckter musikalischer Quellen des Landes, ergänzt um vielfältige
Zeugnisse der Volksmusik, Nachlässe von Komponisten und Musikern,
Quellen zur Rezeption, zur asiatischen Musik, durch Abbildungen
sowie durch repräsentative Werke aus aller Welt.
Ein solches Musikarchiv solle über den musealen Zweck hinaus
ein „living archive“ sein. Dazu müsse die aktive
Sammeltätigkeit durch Kontakte zu den Universitäten, durch
Veranstaltungen, Ausstellungen und Veröffentlichungen ergänzt
werden.
Als ehemalige McCredie-Schülerin lernte die Musikwissenschaftlerin
Robyn Holmes dieses Projektpapier früh kennen. Seit dem Jahre
2000 ist sie als Musik-Kuratorin der National Library verantwortlich
für die Realisierung der dort benannten Ziele. Vieles, was
1968 nur angedeutet werden konnte, bekam inzwischen klare Konturen.
So betrieb die Bibliothek im Bereich der Volksmusik aktive Feldforschung,
indem sie Fachleute mit Musikaufnahmen beauftragte. Die Sammlung
des Folklore-Forschers John Meredith, die den Grundstock gebildet
hatte, wurde beträchtlich erweitert und bietet inzwischen Quellenmaterial
für die Erforschung der Musik- und Sozialgeschichte des Landes,
aber auch für die musikalische Praxis. Zur Idee eines „lebenden“
Archivs gehören ebenso die im Oral History Department aufbewahrten
Interviews mit australischen Komponisten.
Wer die Musiklesesäle deutscher Bibliotheken kennt, wird beim
Betreten der äußerlich so imposanten National Library
zunächst enttäuscht sein: es gibt keinen eigenen Musiklesesaal.
Fragt man nach Musikbüchern, wird man auf ein Regal verwiesen,
in dem neben den Bänden des Grove-Dictionary einige weitere
Nachschlagewerke stehen. Keine deutsche Kleinstadtbibliothek würde
sich mit seinem so bescheidenen Freihand-Angebot zufriedengeben.
Was auf den Regalen fehlt, findet sich in den Magazinen. Die zahlreichen
Bildschirme verschaffen Zugang zu den Katalogen und weiteren Informationen.
Sie werden noch reger benutzt als die Bücher oder Noten selbst,
nicht zuletzt von Angehörigen der jüngeren Generation.
Hat man einen Titel online gefunden und bestellt, wird er überraschend
schnell geliefert.
Nach dem Aufbruch des Jahres 1973 waren die Bestände der Musiksammlung
durch weitere Ankäufe sprunghaft angewachsen und durch kommerzielle
Tondokumente ergänzt worden. Weil sie nur unzureichend katalogisiert
worden waren, flossen die Gelder ab 1985 nicht mehr in Ankäufe,
sondern in Technik und Personal. Vier Jahre später wurde die
Musiksammlung sogar geschlossen und in den Gesamtbestand integriert.
Ein weiterer Rückschlag folgte, als 1993 die Position der Musikbibliothekarin
eingespart wurde. Aber sieben Jahre später entschloss man sich,
eine Kurator-Stelle für Musik einzurichten und damit diesem
Bereich wieder mehr Beachtung zu schenken. Keine Bibliothekarin,
sondern eine Musikwissenschaftlerin wurde mit der Aufgabe betraut.
Robyn Holmes, eine kleine Person voller Energie, betrachtet sich
vor allem als Vermittlerin – als Vermittlerin zwischen den
Medien, aber auch zwischen der Bibliothek und ihren Nutzern: „Wir
wollen Musik unter die Leute bringen, sie überall für
alle Australier und zu jedem Zweck verfügbar machen.“
Was das in der Praxis bedeutet, war an den Ostertagen 2004 zu beobachten.
Beim National Folk Festival, das nun schon zum zwölften Mal
in der Hauptstadt stattfand, informierte die Bibliothek in einem
eigenen Zelt über ihre Bestände. Viele der insgesamt 45.000
Festival-Teilnehmer aus dem In- und Ausland nutzten diese Möglichkeit
oder besuchten die Veranstaltungen, an den die Bibliothek beteiligt
war. So hatte sie erstmals ein Folklore-Stipendium vergeben. Die
Geigerin Jane Brownlee und der Akkordeonist Dave de Santi hatten
für mehrere Wochen privilegierten Zugang zu den umfangreichen
Folklore-Sammlungen erhalten und stellten nun die faszinierenden
Ergebnisse ihrer Studien auf Konzerten und einer CD vor.
Im Unterschied zu den Nationalbibliotheken von Berlin, London,
Wien oder Paris ist die von Canberra relativ weit entfernt von den
Brennpunkten des Musiklebens. Es gibt in der australischen Hauptstadt
eine Musikhochschule, jedoch kein festes Orchester oder gar eine
Oper. Als Antwort auf die isolierte Lage und auf die riesigen Entfernungen
im Lande nutzt die National Library of Australia besonders intensiv
das Internet. „Unser Ideal ist es, dem Nutzer das gewünschte
Objekt in digitalisierter Form direkt über das Netz zu liefern.“
Robyn Holmes weiß, dass noch enorm viel zu leisten ist, bis
die etwa 200.000 Musikobjekte der Bibliothek (davon die Hälfte
aus Australien) und die etwa 500 musikbezogenen Manuskripten-Sammlungen
auch nur annähernd digital erfasst sind. Bei so umfangreichen
Beständen wie der Peter Sculthorpe-Collection, der größten
Sammlung eines einzelnen Komponisten in Australien, wie bei den
von der Australian Broadcasting Corporation übernommenen Orchesterpartituren
(Symphony Australia) oder den Aufführungsmaterialien des Impresarios
J.C. Williamson, die bis zum Jahr 1860 zurückreichen, wird
dies nur teilweise geschehen können.
Neue Kompositionen oder Websites dagegen werden gleich in digitaler
Form erworben. Allerdings sind vor der Internet-Veröffentlichung
Urheberrechtsprobleme zu klären.