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nmz-archiv
nmz 2005/02 | Seite 44
54. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Die Aura der Mittel
Hindemith-Uraufführung in Berlin
„Es ist ein einfaches, vollkommen unproblematisches Stück,
und ich glaube sicher, dass es Ihnen nach einiger Zeit Freude machen
wird. (Vielleicht sind Sie am Anfang ein wenig entsetzt, aber das
macht nichts).“ So schrieb Paul Hindemith 1923 an den Pianisten
Paul Wittgenstein, nachdem er ihm seine „Klaviermusik mit
Orchester“ op. 29 übersandt hatte. Wittgenstein, der
im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, gab daraufhin
bei den renommiertesten Komponisten seiner Zeit Klavierwerke für
die linke Hand in Auftrag – auch Ravel, Prokofieff und Janácek
produzierten für ihn. Doch der konservative Österreicher
tat sich schwer mit den Neutönern; schließlich hatte
er noch Brahms gekannt und liebte eher die Klangopulenz eines Schreker
oder Korngold statt dieser spröden Antiromantik. So kam es,
dass Hindemith zwar ein fürstliches Honorar von 1.000 harten
Dollars erhielt – das ihm inmitten der Inflation die Sanierung
seiner Wohnung im „Kuhhirtenturm“ der alten Frankfurter
Stadtmauer erlaubte –, doch sein Werk nie zu hören bekam.
Allen Angeboten des Komponisten zum Trotz, den Klavierpart mit ihm
„durchzunehmen“, hat Wittgenstein es nie gespielt, behielt
sich aber das alleinige Aufführungsrecht zu seinen Lebzeiten
vor, denn: „Ich habe bestellt und gezahlt“, schrieb
er noch im Jahre 1950 einem Kollegen.
Schöpfer frecher Couplet-Melodien
– „eine Linie zwischen anderen“: Paul
Hindemith. Foto: Felicitas Timpe
Das war kurz vor seinem Tod, doch erst im Jahre 2002 gelang es
der Hindemith-Gesellschaft Frankfurt, die Partitur aus dem Nachlass
zu erwerben. Genauer gesagt eine Abschrift, die Giselher Schuberth
in einem von unzähligen Umzugskartons in einer New Yorker Lagerhalle
ausfindig machte. „Die Arbeiter meinten, dass auch noch ein
Beethoven-Autograph dabei sei“, berichtete der Leiter der
Hindemith-Forschungsstelle anlässlich eines kleinen Symposiums,
das der Uraufführung des Werkes in der Berliner Philharmonie
vorausging. Von diesem Umstand abgesehen, der jedem Musikwissenschaftler
und -bibliothekar die Haare zu Berge stehen lässt, konnte der
reichlich fehlerhafte Fund aus in Frankfurt befindlichen Skizzen
ergänzt und korrigiert werden, das Original dagegen blieb verschollen.
Die Frage, warum jemand eine Abschrift von einem Autograph machte,
das nicht gespielt werden sollte, ließ sich bisher nicht klären.
Von Bedeutung ist sicherlich, so Schuberth, dass hier eine Musik
aufgefunden wurde, welcher der Komponist selbst einiges Gewicht
beigemessen hat. Denn den Mittelteil seines Werkes übertrug
er aus dem Gedächtnis auf den langsamen Satz seines fünften
Streichquartetts, eine zarte Trauermusik, in der über einem
gleichbleibenden Pizzikato-Bass Bratsche und zweite Geige kanonisch
geführt werden, während die erste Geige sich rhythmisch-metrisch
davon abhebt. In der „Klaviermusik“ dagegen gibt es
keine kanonische Struktur und nicht diesen Bass, sondern ein Ostinato
aus elf Tönen der chromatischen Tonleiter, gerade noch keine
Reihe.
Was kann Wittgenstein so „erschreckt“ haben, dass
er das Werk nicht spielen wollte? Hindemiths „Bürgerschreck“-Phase
war 1923 gerade vorbei. Stephen Hinton (Stanford University) ordnet
das Werk zwischen erster und zweiter Kammermusik ein, an der Schnittstelle
zwischen einem provozierend experimentellen Stil und der gemäßigteren
„neusachlichen“ Schreibweise. Genau an diesem Übergang
gebe es nur noch etwas polemische Härte in den Ecksätzen,
die jedoch durch barocke Spielfiguren und einen gewissen Konstruktivismus
abgemildert sei. Auch der Ausdruckscharakter sei strenger, es gebe
darin nichts Romantisches mehr. Schuberth sieht innerhalb der einsätzigen,
in vier Abschnitte gegliederten Anlage eine Neuartigkeit der Formprozesse,
in der die Themen vielgliedrige, auch in der Instrumentation reich
variierte Konfigurationen bilden, die Stimmen kontrapunktisch außerordentlich
frei geführt werden und vor allem der Schlussteil als neuartige
Verfahren das Arbeiten mit rhythmischen Mustern (patterns) und mit
diastematischen Reihen aufweist. Damit und mit den Techniken der
Montage und Collage, von Schnitt und Überblendung entwickelt
das Werk nach Schuberths Worten eine „Aura der Mittel“,
die es zum Inbegriff der „Neuen Sachlichkeit“ macht
und ihm im Gesamtwerk zur exponierten Stellung verhilft.
Sir Simon Rattle persönlich hob das Werk 82 Jahre nach seiner
Entstehung mit den Berliner Philharmonikern aus der Taufe; mit dem
Pianisten Leon Fleisher, der selbst jahrzehntelang an einer Lähmung
der rechten Hand gelitten hatte, war ein vielleicht für den
Part prädestinierter Solist gewonnen worden. „Unproblematisch“
oder zu wenig virtuos ist das Stück gewiss nicht, fügt
sich vielmehr trotz simpel anmutender „Elementarteilchen“
zu staunenswerter Vielfalt und Komplexität zusammen. In der
sonst durchaus konventionellen Besetzung fallen vier Schlagzeuger
auf. Nach einem mit Fagotten, Blechbläsern und tiefen Streichern
recht ungewöhnlich gefärbten Unisono-Abwärtsgang
beginnt das Klavier, stark in den Orchestersatz eingebettet –
„eine Linie zwischen anderen“ nannte das Hindemith –
eine freche Couplet-Melodie; die Dominanz von Trompeten und Posaunen
lässt zuweilen an Bartóks zweites Klavierkonzert (dessen
Tonfolgen zu Beginn aufwärts gerichtet sind) denken. Gleichmäßig
gezackte Rhythmen nehmen dem jedoch die Wildheit und geben ihm einen
neobarocken Zug; aggressive Akzente kommen von der großen
Trommel; eher ironische, parodistische von Glockenspiel und Snare
Drum.
Zwischen Militär und Jazz, Strawinsky und Orff scheint das
Ganze in grellen und hellen Farben angesiedelt. Besagte „Trauermusik“
im Mittelteil wirkt weniger starr und schablonenhaft als in späteren
Werken; zum melancholischen Englischhorn-Gesang türmt das Klavier
immer dissonantere Mixturen auf, vielstimmigen Satz in einer Hand.
Das hat mit dröger, antiexpressiver „Spielmusik“
nicht das Geringste zu tun. Der mit heftigen Tutti-Schlägen
„aufweckende“ Schlussteil steigert die Mittel und Effekte
des ersten um ein Vielfaches: noch wirbelnder die Repetitionen,
noch mutwilliger die virtuosen Läufe, obwohl der Klavierpart
eher schwierig-spröde als „dankbar“ wirkt. In einem
zweiten Themenkomplex wirkt das Figurenwerk so reichhaltig verschlungen,
als wäre es durch Improvisation zustande gekommen, ostinate
Muster überlagern und verschieben sich immer neu, toben einen
Moment lang im unübersichtlichen Strudel, bis dann doch alles
im einträchtigen „Gigue“-Gestus zusammenfindet.
Ein zündendes, in Berlin heftig bejubeltes Werk, das die Vorzüge
des „frühen“ wie des „späten“
Hindemith in seinem besonderen Entstehungsmoment des Phasenübergangs
zu vereinigen scheint, eine Entdeckung, die möglichst rasch
zur Repertoire-Bereicherung werden sollte.