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nmz-archiv
nmz 2005/02 | Seite 43
54. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Genauigkeit und die Liebe zum Einzelnen
Der ungarische Komponist György Kurtág in Weingarten
Immer wieder kommt man gerne in das nahe des Bodensees gelegene
Örtchen Weingarten, wenn man einen Komponisten gründlich
und perspektivenreich kennen lernen will. John Cage war schon vor
mehr als 15 Jahren hier, Helmut Lachenmann, Dieter Schnebel, Karlheinz
Stockhausen, Wolfgang Rihm, Mauricio Kagel, Adriana Hölszky
und manch andere folgten. Der 1926 geborene Ungar György Kurtág,
einer der ganz großen Zeitgenossen mit völlig neuen Ausblicken,
was heute Denken in Musik heißen kann, war da im Grunde schon
überfällig.
Der Interpret: Márta
und György Kurtág spielen „Jatékók“.
Die Idee, einen Komponisten ausschließlich ins Zentrum der
Programme zu rücken, ihn dazu über ein wissenschaftliches
Referat (diesmal mit griffiger Eloquenz und genauen Beobachtungen:
Reinhard Brembeck) und eigene Erörterungen des Werks vorzustellen,
hat sich als Erfolgsgarant erwiesen und wird seit dem Cage-Jahr
1987 verfolgt. Der Ort lässt nur wenig Entkommen zu, und so
trifft man sich abends im Wirtshaus wiederum mit dem Komponisten
und den Musikern. Und die Menschen hier haben oft andere Fragen
an sie, als sie in Fachkreisen gestellt würden. Es mögen
bescheidene Anfragen sein, in erster Linie sind es erfrischende.
Viel zu lange schon hat sich Neue Musik hinter den Luftblasen eines
vorgeblichen Fachjargons versteckt.
„Energie ist für mich Reserve von Kraft“, sagte
Kurtág bei einer Übungsstunde mit jungen Klavierschülerinnen,
die zusammen mit der Pädagogin Gabriele Stenger-Stein Stücke
von Kurtág erarbeiteten. Das ist ein lapidarer Satz, lässt
man ihn aber wirken, dann wertet er auf einmal Vieles um, was als
musikalisches Selbstverständnis gilt. „Mein Erzfeind
ist die Dynamik“, ergänzte Kurtág und er wollte
damit sagen, dass klangliche Wucht nicht in Phon zu messen ist.
Hunde, die bellen, beißen nicht – und wirklich mag lautes
Dröhnen wie Klappern wirken, während einen die Energie
eines stillen Tons, ja einer Pause zu Boden schmettern mag. Aber
wie erzeugt man solche Energien oder Kraftpole? Dieser Frage ging
Kurtág seit gut vierzig Jahren nach, als er im Alter von
33 Jahren nach einer großen Reihe von Kompositionen noch einmal
mit der Opuszahl 1 begann. Und seither haben sich die Ergebnisse
in ständiger Sublimierung verdichtet. Das mag man ablesen an
zwei Liederzyklen Kurtágs, die in Weingarten erklangen. Im
Grunde gab es die romantische Form des Liederzyklus’ im 20.
Jahrhundert nicht mehr. Andere ästhetische Prämissen hatten
sie getilgt. Bei Kurtág aber wirkt es so, als sei das Reservoir
dieser Form unerschöpflich. Freilich erzählen die zwischen
1985 und 1987 entstandenen „Kafka-Fragmente“ für
Sopran und Violine (Anna Maria Pammer, András Keller) oder
die Beckett-Vertonungen „…pas à pas – nulle
part…“ für Bariton, Streichtrio und Schlagzeug
keine Geschichte mehr. Fortgeschrieben wird Schuberts Idee der Winterreise,
also das Durchwandern eines Lebensgefühls in immer neuen Facetten.
Der Pädagoge: Energie
ist wichtig. Fotos: Charlotte Oswald
Kurtág ist hier genau wie kein zweiter Komponist der Gegenwart.
Jeder Ton trägt Bedeutung und droht an dieser Last aus den
Nähten zu platzen. Botschaften, geflüstert, verschlüsselt
oder wie auf kleinem Zettel weitergereicht künden von elementaren
Ereignissen. Wer solches schöpferisch unterfängt, muss
über äußerste Genauigkeit, Liebe zum Einzelnen,
vor allem aber über die Sensibilität des intensiven Erfassens
und Wiedergebens verfügen. Aus dem Schwung eines Mundes, dem
Leuchten der Augen, dem Klang der Stimme lässt sich für
den, der genau und verstehend beobachtet, ein ganzes Schicksal ablesen.
Das verlangt, trotz einer häufig scheinbar einfachen Kontur
des Notentextes, Ungeheuerliches vom Interpreten. Lang, quälend
lang lässt Kurtág immer wieder einen einzigen Ton probieren,
bis die Gestaltung seiner Intention nahe kommt. Und bei diesem Probieren,
bei den Erläuterungen des Komponisten, tut sich ein ganzes
Universum auf, das sich hinter dem unschuldigen Ton verbirgt. Es
geht um die Geste der Ausführung, um Spannung und Entspannung,
um eingeschriebene Energien. Und manchmal verweist Kurtág
auf eine ganze Passage aus einer Sinfonie oder einer Oper, um die
Bedeutungsschwere dieses Tons zu umreißen.
Für Kurtág gebührt solche bis zum Letzten gehende
Intensität jedem großen Werk der Musikgeschichte und
er widersetzt sich hiermit den laxen Auffassungen, die mit heutigen
Interpretationspraktiken einhergehen. Der Lohn ist unermesslich:
für den Interpreten, für den Hörer.
Denn es gilt musikalische Potenzen des Ausdrucks zu erfühlen,
die unsere Oberflächlichkeit längst vergessen ließ.
Ausdruck aber ist die Seele seiner Musik. Er ist unendlich verletzlich,
dies aber macht zugleich seine Stärke aus. Gelingen kann er
nur, wenn die Musiker sich ihm schutzlos ausliefern. Besonders in
den charakterlich überbordenden Beckett-Gesängen (von
der Zitat-Farce bis zu Schrei und Gelächter) mit Kurt Widmer,
Hiromi Kikuchi, Ken Hakli, Stephan Metz und Mircea Ardeleanu, alle
engst vertraut mit Kurtágs Ansprüchen, ereignete sich,
was man von Musik kaum mehr erwartet: alle, Ausführende wie
Hörer, wurden beschenkt.
Das Wochenende wurde durch einen Vortragsabend von Márta
und György Kurtág zu einem weiteren Höhepunkt geführt.
Sie spielten, wie immer überragend eindringlich, Stücke
aus Jatékók und überirdisch schöne Bach-Bearbeitungen
Kurtágs.