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nmz-archiv
nmz 2005/02 | Seite 17
54. Jahrgang | Februar
Forum Musikpädagogik
Musikpädagogik – Bildung kultureller Identität?
Internationaler Kongress der Gesellschaft für Musikforschung
in Weimar · Von Christian Rolle
„Musik und kulturelle Identität“ – so lautete
das Thema des internationalen Kongresses, der von der Gesellschaft
für Musikforschung vom 16. bis 21. September 2004 in Weimar
veranstaltet wurde. Musikwissenschaftler aller Teildisziplinen beschäftigten
sich eine Woche lang mit einem Problemfeld, dessen Bearbeitung gewöhnlich
der Musikethnologie überlassen wird. So vielfältig wie
das Programm des Kongresses mit Vorträgen, Podiumsdiskussionen
und Konzerten, so vielstimmig waren die musikwissenschaftlichen
Diskurse, die sich in zahlreichen parallelen Sektionen äußerten.
Der hervorragenden Arbeit des Organisationsteams um Prof. Dr. Detlef
Altenburg und Prof. Dr. Raimund Vogels war es zu verdanken, dass
die riesige Veranstaltung für die Teilnehmer zum Gewinn werden
konnte.
Die Musikpädagogik war (unter anderem) durch ein eigenes Symposion
mit dem Titel „Musikpädagogik: Bildung kultureller Identität?“
vertreten, das auch bei vielen Musikwissenschaftlern auf Interesse
stieß, weil es offenbar eine ganze Reihe gemeinsamer Problemstellungen
gibt. Unter pädagogischer Perspektive wurde gefragt nach Möglichkeiten,
kulturelle Identitätsbildungen zu beschreiben sowie nach dem
Ort und der Funktion, die Musik dabei einnehmen kann. Nicht zuletzt
angesichts von Globalisierung und Migrationsbewegungen, angesichts
der medialen Verfügbarkeit jeglicher Musik sowie den zahlreichen
Begegnungen und „Cross-overs“ verschiedener musikalisch-kultureller
Praxen stellen sich Fragen nach dem Zusammenhang von Kultur, Bildung
und Identität seit einiger Zeit auch aus der musikpädagogischen
Praxis heraus. Doch obwohl das Stichwort „Interkulturalität“
schon länger auf der musikpädagogischen Agenda steht,
wie zahlreiche Veröffentlichungen oder beispielsweise das Thema
des AfS-Kongresses 2002 „Musikkulturen – fremd und vertraut“
beweisen, gibt es nach wie vor einen Nachholbedarf an Theoriebildung.
Das Interesse daran bewegte den AfS (Arbeitskreis für Schulmusik)
dazu, das musikpädagogische Symposion auf dem Kongress auszurichten.
Die Beiträge reichten von der Auseinandersetzung mit grundlagentheoretischen
Problemen über historische Untersuchungen zur Musikpädagogik
bis zu konkreten musikdidaktischen Fragestellungen, die Aspekte
von Unterrichtsplanung und -gestaltung betrafen.
Zentrale Begriffe
Kultur, Identität und Bildung sind zentrale Begriffe pädagogischer
Diskurse, die immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden
müssen. Die hermeneutische und begriffskritische Untersuchung
musikpädagogischer Texte aus verschiedenen Epochen vorwiegend
des 20. Jahrhunderts, die Bernhard Hofmann (Regensburg) vorstellte,
zeigte, dass sich innerhalb dieser Disziplin keine einheitliche
und aufeinander bezogene Geschichte der Begriffe „Kultur“
und „kulturell“ rekonstruieren lässt. Die manchmal
inflationäre und häufig undifferenzierte, dagegen nur
selten befriedigend erläuterte Verwendung in Formulierungen
wie beispielsweise „Kultur vermitteln“ oder „Kultur
erschließen“ führt eher zur Verdunkelung, als dass
sie dienlich wäre für die argumentative Auseinandersetzung.
Klar ist lediglich, dass die traditionelle Vorstellung, kulturelle
Identität würde durch Vermittlung von Kunstwerken der
Hochkultur des sogenannten Abendlandes gebildet, zunehmend an Glaubwürdigkeit
verliert. Weniger klar ist, was kulturelle Identitätsbildung
überhaupt bedeuten soll und welchen Beitrag Formen der Populären
Musik oder die Musiken anderer Kulturen zu einem solchen Vorgang
leisten (können).
Dorothee Barth (Hamburg) konnte in ihrem Beitrag zeigen, dass
ein Teil der Probleme schon dadurch entsteht, dass zwei verbreitete
Verwendungsweisen des Kulturbegriffs nicht recht zueinander passen:
Im Blick auf die eigene Kultur steht der Begriff dem der Bildung
nahe und wird normativ aufgeladen gebraucht (Bildung ist gewissermaßen
immer kulturelle
Bildung, und wer kulturlos ist, ist schlicht ungebildet). Im Blick
auf fremde Kulturen wird dagegen meistens ein ethnisch-holistischer
Begriff benutzt, der Kultur wertneutral beschreibend als soziales
Regelsystem betrachtet. Beide Verwendungsweisen laufen in musikpädagogischen
Diskursen durcheinander und beide greifen zu kurz. Erforderlich
ist ein differenzierter Kulturbegriff, wie er sich in der Rede von
multikulturellen Gesellschaften und der transkulturellen Verfasstheit
des Menschen andeutet. Kultur sollte bedeutungsorientiert interpretiert
werden als ein Komplex von symbolischen Ordnungen, mit denen sich
die Handelnden ihre Wirklichkeit sinnhaft konstruieren, was eine
kollektive Leistung darstellt, die auf gemeinsamen Deutungen der
Akteure beruht.
Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt man, wenn man von einer
Analyse des Identitätsbegriffes ausgeht. Hermann-Josef Kaiser
(Hamburg) wies darauf hin, dass der Begriff Identitätsbildung
in der Pädagogik meistens eindimensional positiv konnotiert
verwendet wird (häufig wird darin das Ziel pädagogischer
Bemühungen gesehen), während in der Rede über (Musik-)
Kulturen die Kehrseite des Identitätsbegriffes hervorgehoben
wird, nämlich dass (kulturelle) Identität durch Abgrenzung
entsteht. Die traditionelle pädagogische Vorstellung von Bildung
als Identitätsbildung, die sich auf theoretische Konstrukte
wie „Subjekt“, „Ich“, „Person“
oder „Individuum“ bezieht, macht nur die Vorder-, ein
Modell der Distinktion nur die Rückseite eines Vorgangs sichtbar,
der in Formulierungen anklingt wie, es sei die Aufgabe eines Menschen,
eine jeweils eigene Identität (möglichst flexibel und
wandelbar) aus Bestandteilen unterschiedlicher kultureller Traditionen
zu konstruieren. Angesichts der Vermischung oder Durchdringung musikkultureller
Praktiken muss nun grundsätzlich nach der Reichweite eines
Konzepts kultureller Identität gefragt werden. Die Schwierigkeiten
verdeutlichte sehr überzeugend und anschaulich Martin Greve
(Berlin) in seinem Erfahrungsbericht aus der Praxis interkultureller
Musikpädagogik, in dem es um die Einbeziehung „türkischer
Musik“ in die Programmangebote von Musikschulen und Hochschulen
in Westeuropa ging. Der Irrtum, der der Rede von der türkischen
Musik zugrunde liegt, lässt sich angesichts der Komplexität
und Widersprüchlichkeit unterschiedlicher religiöser,
politischer und regionaler Identitätszuschreibungen auch durch
weitest gehende Differenzierung nicht vermeiden.
Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Kultur unterscheidet
sich von der bloßen Mitgliedschaft in einem Verein, dem Angestelltenverhältnis
in einem Unternehmen oder auch der Staatsangehörigkeit unter
anderem dadurch, dass die kulturelle Identität eines Menschen
entscheidend dafür ist, wer dieser Mensch ist. Für die
Musikpädagogik kommt es darauf an, dass die Konstruktion von
Identität nicht passiv als „kulturelle Prägung“,
sondern aktiv als Bildungsprozess verstanden wird, in dem Kinder
und Jugendliche sich in Auseinandersetzung mit der Welt –
unter anderem mit den kulturellen Traditionen, denen sie begegnen
– selbst bilden.
Musikalische Bildung bedeutet nicht die bloße Übernahme
musikbezogener Praktiken und Wertvorstellungen, und wer seine kulturelle
Identität auf solche Weise (vielleicht auch patchworkartig)
konstruiert, ist nicht schon musikalisch gebildet. Entscheidend
ist das Vermögen des Menschen, sich zu sich selbst ins Verhältnis,
sich mit seiner kulturellen Identität, mit seinem Gewordensein
auseinander zu setzen, das dafür notwendige Reflexionsvermögen
sowie Handlungsoptionen zu erwerben, die über das Repertoire
kulturspezifischer Praktiken hinausgehen.
Irritationsmomente
Die Frage ist, welche Aufgabe der Musikpädagogik dabei zukommt
und wie sie wünschenswerte Bildungsprozesse unterstützen
kann. Birgit Jank (Potsdam) forderte in unterrichtsmethodischer
Perspektive dialogische Herangehensweisen, die die Bewusstmachung
eigener kultureller Identität gerade im Blick auf die Unterschiede
zu fremden kulturellen Identitäten (und zwar ohne deren Ablehnung)
fördern. Christian Rolle (Saarbrücken) wies darauf hin,
dass Ästhetische Bildung stets ein Irritationsmoment für
kulturelle Identität und Identitätsbildungsprozesse bedeutet.
Anstelle des Vermittlungsbegriffes sollte lieber mit dem Begriff
der Erfahrung gearbeitet werden, weil er fruchtbarer erscheint für
weiterführende musikdidaktische Überlegungen. Kulturelle
Bildung lässt sich nicht „vermitteln“, sondern
Aufgabe eines erfahrungsorientierten Musikunterrichts ist die Schaffung
von (pädagogisch geschützten) Räumen, die die Auseinandersetzung
mit Divergenzen erlauben.
Bildung ist (über den Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten
hinaus) ein unabschließbarer und riskanter Prozess, in dem
Menschen – nicht zuletzt durch „Aneignung“ kultureller
Objekte – neue Möglichkeiten der Selbst- und Weltbeschreibung
erwerben, das heißt sich neue Sichtweisen der Dinge erschließen,
um sich immer wieder neu in der Welt zu orientieren. Das verändert
den Menschen. Das gilt auch für musikalisch-ästhetische
Bildung: die ästhetische Praxis, die ich pflege, ist immer
auch Ausdruck dessen, wie ich mich in der Welt sehe, und im Prozess
ästhetischer Erfahrung ändert sich vielleicht nicht nur
die Musik, die ich mag, und die, die ich ablehne, sondern damit
auch, wer ich bin. Es gibt keinen abgeschlossenen Zustand gefestigter
kultureller Ich-Identität, sondern dabei handelt es sich um
eine Leistung, die ich immer wieder erbringen muss. Bildungsprozesse,
in denen wir die Erfahrung von Fremdem machen oder in denen uns
das Eigene fremd wird, werden jeglichen Zustand kultureller Identität
in Unruhe versetzen.