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nmz-archiv
nmz 2005/02 | Seite 6
54. Jahrgang | Februar
Magazin
Die Vokalpolyphonie und die Uhr
Zum Film „Dein Kuss von göttlicher Natur: Der Zeitgenosse
Perotin“
Filme über Musik sind immer eine heikle Sache. Denn allzu
oft werden einfach Rezepturen angewandt, die reibungslos, dennoch
aber inhaltlich holprig, das musikalisch sich Ereignende ins Bild
bringen. Öde sind oft die Regieführungen, die einfach
dem Dirigenten und dem spielenden Orchester folgen (mit den Verdoppelungen:
Wenn die Klarinette die Hauptstimme spielt, sieht man die die Löcher
und die Klappenmechanik abgreifende Hand, was ebenso nahe liegt
wie es hilflos wirkt und meist auch noch vom musikalischen Gewebe
ablenkt). Öde sind genauso häufig die Schwenks durch den
Raum (mit Vorliebe bei Kirchen wegen der reich zur Verfügung
stehenden Bilderflut) oder gar Ausflüge in die Weite der Fantasie
mit ziehenden Wolken, brechenden Wellen und weiten Landschaften.
Die Musik hat nichts davon, wird zur akustischen Zierde.
Erleuchtetes Musizieren
und Debattieren über Perotin – aus Aumüllers
Film
Weitaus viel versprechender ist da das Aufheben der Konzertsituation
in der Auseinandersetzung mit einem Komponisten oder einem Interpreten:
Porträts also, die das Bild auf sinnvoll illustrierende Weise
einsetzen. Einer der wichtigsten, skrupulös selbstbefragend
mit den Bildern umgehender Musikfilme-Macher ist gegenwärtig
Uli Aumüller. Seine Filme etwa über György Ligeti
oder Conlon Nancarrow zählen zu den faszinierendsten Filmportaits
der Gegenwart. Hier freilich konnte man den Umstand nutzen, dass
der vorgestellte Komponist lebt, dass man ihn bei der Arbeit, im
Gespräch, bei seinen Erörterungen beobachten kann. Die
Musik und das Bild treten in kommunikative Wechselwirkung, das eine
erhellt das andere. Was ist aber, wenn ein Film über einen
toten Komponisten gemacht wird und wenn man sich nicht auf die Schiene
eines illustrierten biografischen Abrisses begeben will, der der
Spekulation Tür und Tor öffnet; der also das Spannungsfeld
seiner Musik zu unserer Zeit mit allen Fragestellungen und Konflikten
beleuchten will? Jetzt hat Uli Aumüller diesen Versuch gewagt:
gleich mit einem Komponisten oder vielleicht besser Musiker, der
zeitlich weit entrückt ist; mit Perotin: „Dein Kuss von
göttlicher Natur“. Perotin ist so weit entrückt,
dass von Wissenschaftsseite sogar Zweifel an seiner Existenz geäußert
wurden (zumindest Zweifel am Begriff des musikalischen Autors).
Sein Leben gibt es in unserem Wissen gar nicht, nur Musik, die mit
seinem Namen gekennzeichnet ist, und dazu ein paar Hinweise, dass
sein Wirken wohl mit der Pariser Kirche Notre-Dame zusammenhing
und dass es als noch bedeutender, als noch besser als das des Vorgängers
Leonin eingeschätzt wurde.
Wir haben einen Ort, wir haben Noten (bis zur damals unerhörten
Vierstimmigkeit), von denen wir nicht wissen, wie sie aufgeführt
wurden, wir haben Texte zu den Noten, wir haben geschichtliche Daten
dieser Zeit. Einen Film über Perotin zu machen, davon ist Aumüller
überzeugt, kann nur ein Film über ungeklärte Rätsel
und über heutige Annäherungsversuche an sie sein. Ein
guter Musikfilm macht aus der Struktur und dem Charakter des musikalischen
Gegenstands eigene, visuelle Gesetze. Ein Film über Monteverdis
Musik kann in seiner Anlage nicht einem über die Werke Bruckners
ähneln. Sonst wäre die Form des Films bloße Hülle
und würde nur wenig zum Verständnis des jeweilig anders
Klingenden beitragen. Einstellungen, Tempo der Schnitte, Effekte
wie Überblendungen müssen in Korrespondenz zu den Wesenszügen
der behandelten Musik stehen. Zum Projekt macht der Autor unter
anderem folgende Angaben: „Wer war Perotinus magnus? Ob, wann
und wo genau er gelebt hat, wissen wir nicht. Irgendwann um 1200
– und wahrscheinlich hatte er irgendwie etwas mit der gerade
neu erbauten Kathedrale von Notre-Dame in Paris zu tun. Und wir
wissen, dass er ein Revolutionär war, dass die Musik, die er
komponierte, eine Größe und eine Schönheit hatte,
die das Musizieren in Europa insgesamt auf neue Beine stellte. Mit
Perotin beginnt die europäische Musikgeschichte. Seine vierstimmigen
Vokalkompositionen haben die gleiche Bedeutung wie die mechanische
Uhr, die etwa zur gleichen Zeit erfunden wurde – und die das
Wesen europäischer Kultur seither entscheidend prägte.
Dabei hängen beide Erfindungen – die der Uhr und der
Vokalpolyphonie – auf das Engste zusammen. Vielleicht hat
Perotin mit seiner Musik einen neuen Zeitbegriff in die Welt gesetzt,
der die mentale Grundlage war für die Idee, das mechanische
Räderwerk als Instrument der Zeitmessung zu nutzen.“
Aus diesen Grundüberlegungen wurde der Film strukturiert.
Zusammengearbeitet wurde mit dem Hilliard Ensemble (vier Sänger),
mit vier Historikern (Martin Burckhardt, Kulturhistoriker; Rudolf
Flotzinger, Musikhistoriker; Christian Kaden, Musiksoziologe; Jürg
Stenzl, Musikhistoriker) sowie mit dem Choreografen Johann Kresnik.
Die vier Historiker führen inszenierte, mit deutlichen Gesten
ausgestattete, Debatten über die Person Perotin, einem scholastischen
Streitgespräch ähnelnd. Auch geben sie den probenden Sängern
Vorschläge, wie Perotin im Vergleich zu Leonin zu interpretieren
sei. Und schließlich fügt Kresnik noch traumartige Tanzsequenzen
zur Person der Gottesmutter Maria hinzu (weil Perotin so viele Marientexte
– wegen der Kirche Nôtre Dame? – in Musik setzte).
Am Schluss des Films werden die drei Erzählstränge (man
mag an Dreieinigkeit denken) ineinander verwoben. Die Annäherung
an Perotin ist so komplex, wie die Person in ihrer geschichtlichen
Verschüttungslage selbst. Noch einmal aus dem Kommentar zum
Film: „Ganz abgesehen davon, dass Perotins Musik wegen ihrer
Konzentration und überwältigenden Schönheit auch
den heutigen Hörer (und bei weitem nicht nur den musikalisch
ausgebildeten) in ihren Bann zu ziehen versteht, und uns mit dem
Hilliard-Ensemble das zur Zeit berühmteste und kompetenteste
Ensemble für diese Art von Musik zur Verfügung stand,
versucht dieser Film mit den technischen Möglichkeiten des
21. Jahrhunderts, einer zeitgenössischen Filmsprache, einen
Teil der Wirkung zu rekonstruieren, den diese Musik auf die Hörer
des 12. und 13. Jahrhunderts ausgeübt haben muss.“ Hierin
gibt uns Aumüllers Film weit über Perotin hinaus Hinweise,
wie sich dem Projekt eines Musikfilms zu nähern sei.