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nmz-archiv
nmz 2005/02 | Seite 6
54. Jahrgang | Februar
Magazin
Ein Musiksender spielt keine Musik mehr
Sex, SMS, Call-in Shows und rülpsende Klingeltöne gestalten
das neue VIVA Programm
Im Wirtschaftsdeutsch sehen die Fakten präzise aus. Der Konzern
Viacom (unter anderem CBS, Paramount, Musikkanal MTV) hält
rund 95 Prozent der Aktien an der Viva Media AG mit ihrem Musiksender
VIVA. Zudem kontrolliert Viacom neben VIVA und MTV die Kleinsender
VIVA Plus sowie MTV Pop. VIVA lebt unwidersprochen unter der Fuchtel
des ehemaligen Konkurrenten MTV. Einhergehend mit wirtschaftlichen
Folgen wie eventuelle Standortverlagerung oder MitarbeiterReduktion
sind Programm-Umstrukturierungen, deren Folgen letzte Reste der
Musikkultur bei VIVA im Jahr 2005 humorlos plätten.
Indie-Bands wie Franz Ferdinand
(Schottland, links) oder Kettcar (Deutschland, rechts) werden
in der neuen VIVA-
Programmstruktur keinen Platz mehr finden. Quelle beider
Fotos: Verstärker
2004 liefen alle den Mainstream störende Sendungen bei VIVA
aus. Die Viacomer-Denker setzten mit „Mixery Raw Deluxe“
die einzige HipHop-Sendung im deutschen TV ab, „Fast Forward“
mit seiner unformatierten Musik, präsentiert von Charlotte
Roche, musste ebenfalls weichen. Sendungen, denen kleinste menschliche
Redaktionen zur Seite standen. Deutliche Anzeichen, dass Popmusik
als facettenreiche Kultur im Konzern Viacom abgeschafft werden soll,
denn für Viacom bleibt der automatisierte Main-stream einfacher
zu kontrollieren als die Format-Ausreißer, die eventuell schwer
vermarktbare Sub- und Verweigerungskulturen anzetteln. VIVA und
MTV müssen per Konzerndekret auf Schmusekurs fahren. Das war
bis vor ein paar Jahren noch ambivalenter: MTV gab den erfahrenen
Musiksender mit Distanz zum Künstler, VIVA fungierte zeitlebens
als proletarischer Gegenpol, dem nichts zu billig oder bunt war.
„Alles ist Pop“, tönte VIVA- Chef Dieter Gorny
jahrelang. Er glaubte daran und wurde reich.
Leider änderte sich die Publikumslandschaft kegelförmig.
Alles lief auf den engen Teil des Trichters namens Mainstream zu.
Ein Umstand, den VIVA mit zu vertreten hat. Weil man nicht am eigenen
Profil feilte, sondern amerikanische Originale der Abteilung Trash-TV
(MTV’s „Jackass“) kopierte um Marketing kompatibel
zu bleiben, denn was alle ständig sehen, ist eine verlässliche
Konstante für Werbekunden. Was sich beim Radio längst
vollzogen hatte (Gleichklang aller rotierender Sender), hielt in
die deutsche Musikkanal-Landschaft Einzug und erreichte 2003/2004
den Höhepunkt. Dieselben angloamerikanischen Rap- Videos liefen
ununterbrochen, Redaktionen wurden entlassen und Musik wurde bei
den Sendern durch Klingelton-Werbeblöcke ersetzt. Die Botschaft
der Musikkanäle war klar: „Kauft lieber den ollen Klingelton
der 80er-Jahre für 4,99 Euro pro SMS als eine Single der Nachwuchsband,
denn am Klingelton verdienen wir und die Nachwuchsband spielen wir
eh nicht.“
Am 13. Januar 2005 war es nun soweit. VIVA stellte das von Viacom
konfigurierte TV-Programm vor, das scheinbar ohne Musik auskommt.
„Young Entertainment Paket“ nennt man das. Will heißen,
um die debilen Klingeltöne (wahlweise rülpsender oder
lallender Elch) wurde das schale Programm für die Zuschauer
unter 16 gestrickt, das sich bei näherer Betrachtung als gut
getarnte Handy-Abzocke darstellt: Am 17. Januar startete zum Beispiel
„17“, eine Show, die Schule, Eltern und Gesellschaft
komplett ersetzt. Die Viva-Zuschauer sollen sich von den „17“-Moderatoren
in allen Liebes- und Lebenslagen helfen lassen. Am Handy per SMS
oder im Chat-Room. Denn zu jedem Problem soll der polyfone Klingelton
mitgeliefert werden – Stevie Wonders „I just called
to say I love You“ böte sich zwingend an.
Dann gibt es eine neue SMS-Flirt-Show namens „Loveline“,
deren Inhalt der Sender so beschreibt: „Bei Loveline kannst
du checken, ob es dein(e) Liebste(r) wirklich ernst meint. Schick
eine SMS und schon erscheint die Antwort als Prognose in Prozent
live on air bei Loveline und kurz darauf auf deinem Handy.“
Wer kapiert, welche Werte das Liebes-Orakel zur Analyse verwendet,
wird sich bei der Call-in-Show „Liebe, Sex & Video“
wieder finden, die „eine Stunde lässiges Love- TV zum
Mitmachen mit Flirt-Lounge und Liebes-Beratung“ verspricht.
Weil es noch tiefer geht, lässt sich VIVA nicht lumpen und
öffnet mit „X-Rated“ eine der unteren Schubladen:
Seit 20. Januar werden Videos gezeigt, die bislang nur zensiert
zu sehen waren. HipHopper, die Kreditkarten durch sämtliche
Öffnungen ziehen, Menschen, denen Kleidung fremd ist. Freigegeben
ist die Sendung ab 18. Wahrscheinlich beamt man die heimlich glotzenden
Minderjährigen per Handy von der Glotze weg.
Flankiert wird das Restprogramm von Entertainment- Serien wie „101
Juiciest Hollywood Hookups“ (die schönsten Paare der
Entertainment-Welt), „101 Best Kept Hollywood Secrets“
(101 Hollywood Geheimnisse), „101 Most Shocking Moments“
(101 schockierende Momente der Unterhaltungsbranche) oder „Brainiac“
(Feuerteufel Richard Hammond sprengt alles, nur nicht sich selbst
in die Luft). Zwar durften die Zuschauer die „Sarah Kuttner-Show“
als Popkultur-Krümel behalten, doch ohne fundierte Redaktion
wird sich die unbeholfene Moderatorin sicher bald selbst aus dem
Programm kegeln.
So degeneriert sieht Musik bei VIVA aus. Ein Musiksender, der keine
Musik spielt. Und wenn, dann nur Musik, die vor 20 Jahren „in“
war und als Klingelton reanimiert wird. Man gaukelt dem Zuschauer
durch interaktive Sendungen Interesse vor, und um die Ecke wird
abgezockt. Eine traurige Entwicklung, die den Musiksender VIVA zum
schmierigen Entertainment- Händler macht.
Doch die Ware, die VIVA anbietet, hat das Haltbarkeitsdatum längst
überschritten. Und wo keine Musik, da keine Popkultur. Dieter
Gorny ist nach zehn Jahren VIVA widerlegt. Quod erat demonstrandum.