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2005/02 | Seite 24
54. Jahrgang | Februar
Musikvermittlung
Man bedauert, selbst kein Kind mehr zu sein
Claude Debussy: La Boîte à joujoux – ein musikalischer
Traum aus der Spielzeugschachtel
Am Kassentresen eines Spielwarengeschäfts sitzt der Ladenbesitzer
und freut sich über seinen guten Absatz, den ihm das zurückliegende
Weihnachtsgeschäft beschert hat. Eine Kundin betritt das Geschäft
und entdeckt nach langer Suche einen letzten Artikel: eine große,
uralte Spielzeugschachtel, die seit ewigen Zeiten als Ladenhüter
inmitten des Ladens steht. Und so entspinnt sich aus dem Entschluss,
die Schachtel zu kaufen, eine wunderschöne Geschichte von einer
zarten, hübschen Puppe, einem kleinen Soldaten und Polichinelle,
einem etwas rüpelhaften Typen, der ebenfalls in dem Spielzeugschachteldorf
zu Hause ist. Schon bald steht für alle Beteiligten fest, dass
es sich bei dieser Schachtel um ein besonders außergewöhnliches
Modell handeln muss, dem ein alter Zauber innewohnt. Und nur mithilfe
der feinsinnigen Musik Claude Debussys gelingt es, das vertraute
Leben in der Schachtel wieder zum Klingen zu bringen ...
Das Plakat zum Konzert.
Alle Bilder: Kerstin Peick, Berlin
Diese Sätze beschreiben den Beginn eines groß angelegten
Kinderkonzertprojektes mit Debussys Komposition „La Boîte
à joujoux“, das die Hamburger Camerata jüngst
in der Hamburger Kampnagel-Fabrik zur Aufführung gebracht hat.
Im Vordergrund steht nicht etwa eine Reproduktion des ursprünglichen
Kinderballetts, sondern eine neue konzertant gestaltete Form, die
von konzentrierten Momenten des Zuhörens und Phasen des aktiven
Mitmachens lebt. Dieses aktive Mitmachen besteht in Body-Percussion
zu einem Rhythmus aus der Spielzeugschachtel, im Mitsingen und auch
in kleinen sitzenden Tanzbewegungen, alles vom Publikum an seinem
Platz ausgeführt.
Für die Hamburger Camerata als freies Orchester mit professionellen
Musikerinnen und Musikern kam das große Plädoyer für
eine sinnstiftende Kinderkultur, das die neue Kultursenatorin Karin
von Welck in die Stadt gebracht hat, gerade recht. Die von ihr propagierte
Aufbruchstimmung wird mittlerweile an vielen Orten und in zahlreichen
Institutionen der Hansestadt spürbar. Aber auch über Hamburgs
Landesgrenzen hinaus besitzt das Projekt hinsichtlich der vielerorts
geforderten Nachhaltigkeit Vorbildcharakter. Das Orchester selbst
setzt sich mit diesen aufwendig gestalteten Veranstaltungen neue
Ziele: Nach dem viel zitierten Motto „Kinder sind das Publikum
von heute“ sollen junge Menschen aus allen Stadtteilen Hamburgs
in der Entwicklung ihrer kreativen und sinnlichen Fähigkeiten
unterstützt und mit konzertanter Live-Musik in Berührung
gebracht werden. Ob ein Konzertbesuch für Kinder dann wirklich
zum nachhaltigen Erfolg wird, hängt zu großen Teilen
auch von einer gelungenen Vor- und Nachbereitung der Veranstaltung
ab. Für alle Lehrkräfte der allgemein bildenden Schulen
sowie der Staatlichen Jugendmusikschule, die mit ihren Klassen die
Konzerte besuchen wollten, wurden im Vorfeld zwei Workshops angeboten,
in denen improvisatorische Spielanleitungen zum Umgang mit dem komplexen
musikalischen Material Debussys vermittelt wurden. Als Begleitmaterial
entwickelte die Hamburger Camerata für alle Interessierten
eine Mappe mit einer Sammlung von musikalischen Spielideen.
Darüber hinaus erklärten sich auch einige Orchestermitglieder
bereit, zur intensiveren Vorbereitung der Konzerte in Grundschulen
zu gehen, ihre Instrumente vorzustellen und den Kindern so bereits
einen ersten Eindruck von der Komposition zu vermitteln. Dass die
kindliche Vorfreude auf einen gemeinsamen Konzertbesuch für
das junge Publikum von besonderer Bedeutung sein kann, zeigen die
kleinen Dankesbriefe, die die Ensemblemitglieder im Anschluss an
ihren Schulbesuch erhielten.
Ein Orchester entwickelt sich in Richtung seines Publikums: Für
ein freies Orchester ohne staatliche Förderung ist die positive
Resonanz bei seinem Publikum überlebenswichtig. Die Hamburger
Camerata ist solch ein freies Orchester, das sich im Wesentlichen
durch Spenden, Sponsorenmittel und Konzerteinnahmen finanziert.
Mit der 1990 gegründeten Abonnementreihe mit sieben Konzerten
in der Hamburger Musikhalle füllt das Ensemble unter der Leitung
von Claus Bantzer und seinem künstlerischen Leiter Max Pommer
mit der Programmgestaltung eine Nische in der Hansestadt. Ein breit
gefächertes Programmangebot von kammermusikalischer Sinfonik
und sinfonischer Kammermusik bis zu einem besonderen Engagement
für zeitgenössische Musik ist charakteristisch für
diese Reihe. Bei diesen Konzerten gibt es einen ständigen Austausch
mit den Besuchern: Vor jedem Konzert wird eine Einführung angeboten,
und nach jeder Veranstaltung treffen sich Musiker, Freunde, Förderer
und Abonnenten im Brahms Foyer der Musikhalle bei einem Empfang,
der sich zu einer Kontakt- und Informationsbörse entwickelt
hat. Der Zuschauerzuspruch wächst beständig, sodass die
Hamburger Camerata zuletzt durchschnittlich 1.300 Besucher bei ihren
Konzerten begrüßen durfte.
Schon sehr früh kam die Anregung von Konzertbesuchern und
Sponsoren, Angebote für Kinder zu entwickeln, die in ihrem
Anspruch und in ihrer Durchführung als Ergänzung zu den
Abonnementkonzerten zu sehen sind. Aufgrund der wiederum bescheidenen
finanziellen Möglichkeiten zog sich die Planung über einen
großen Zeitraum: Nach einer langen Phase der Ideensuche begannen
die Vorbereitungen mehr als ein Jahr vor dem Aufführungstermin.
Herr Pommer unterstützte dieses Projekt jedoch von Beginn an
und beteiligte sich intensiv an den Planungen.
Bisher ohne Vorbild
Die Entscheidung für „La Boîte à joujoux“
fiel bewusst auf ein Werk, das zwar inhaltlich, aber nicht unbedingt
musikalisch ein ausgesprochenes „Kinderstück“ ist.
Für Barbara Stiller und Julia Wetzel, zwei erfahrene Konzertpädagoginnen,
bedeutete es eine besondere Herausforderung, für diese eher
unbekannte Komposition ein musikpädagogisches und dramaturgisches
Konzept zu entwickeln, für das in konzertanter Form bislang
keinerlei Vorbilder existierten. Und für die Hamburger Camerata
hieß es nun, Partner für die Unterstützung des Projekts
zu gewinnen. Aus dem Kuratorium des Orchesters bot Herr Rolf Seelmann-Eggebert
sofort seine aktive Mitarbeit an. Als Moderator zahlreicher Konzerte
des Schleswig-Holstein Musik Festivals und UNICEF-Botschafter war
ihm dies eine Herzenssache, und seine große Beliebtheit in
Hamburg unterstützt das Projekt darüber hinaus in besonderem
Maße.
Partner für die inhaltliche Zusammenarbeit wurden in der
Staatlichen Jugendmusikschule und dem Landesinstitut für Lehrerbildung
und Schulentwicklung gefunden, die jeweils einen der genannten Workshops
organisierten. Die Staatliche Jugendmusikschule beteiligte sich
außerdem mit einer 50-köpfigen Kindertanzgruppe (Leitung:
Astrid Langner-Buchholz) und einem jungen Pianisten an der Aufführung
und unterstützte das Projekt mit ihrer Werbung sowie der finanziellen
Unterstützung von Schülerkarten. Der Musikausschuss der
GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) organisiert in Hamburg
schon seit vielen Jahren Schülerkonzerte in Zusammenarbeit
mit den Musikausübenden der Hansestadt. Diese Erfahrung ermöglichte
es, zwei Konzerte ausschließlich für Schulklassen anzubieten,
die vom Musikausschuss organisiert und beworben wurden.
Angekündigter Erfolg
Überaus langwierig gestaltete sich die Wahl des Aufführungsortes.
Gesucht wurde eine Theaterbühne, um die Inszenierung für
Kinder auch technisch attraktiv umsetzen zu können. Nach langer
Suche wandte sich das Orchester an das Kulturzentrum Kampnagel,
einen Spielort, an dem normalerweise wenig klassische Orchesterkonzerte
stattfinden. Dort fand sich nicht nur die geeignete und gesuchte
Bühne – Kampnagel bot zudem auch fachliche Beratung und
tatkräftige Unterstützung an, die die Hamburger Camerata
bei diesem Pilotprojekt dringend benötigte.
Befördert durch eine attraktive Bewerbung zeichnete sich
schon zwei Wochen im Voraus ab, dass alle drei Konzerte mit jeweils
circa 800 Besuchern ausverkauft sein würden. Mit den Schülerkonzerten
für Klassen ab dem ersten Schuljahr am 21. Januar um 9.00 und
11.00 Uhr stand das Konzept auf dem Prüfstand. Das Publikum,
jeweils circa 750 Kinder, war von der ersten Sekunde an aufmerksam
und voller Interesse und Spannung. Der Wechsel von rein musikalischen
Phasen und solchen, in denen auf der Bühne Tanzaktionen zu
sehen waren, war so gestaltet, dass die Kinder sich jeweils auf
das aktuelle Geschehen konzentrieren konnten. Bei den Mitmachaktionen
zeigten sie eine hohe Aufmerksamkeit. Diese Aktionen sowie das Handeln
auf der Bühne waren sicherlich für viele der Höhepunkt,
was die Kommentare der Besucher zeigten – Paulina (7 Jahre):
„Ich fand toll, dass wir mitsingen durften“, oder Selin
(7 Jahre): „Die Ballerinnerinnen fand ich toll“. Eine
musikalische Phrase, die das Publikum als Duett von Gänsen
und Schafen sang, wurde beim Spielen der Originalkomposition durch
das Orchester erkannt und mitgesungen. Die Einbindung des Publikums
hat also funktioniert, wie auch ein Mitglied des Musikausschusses
nach dem Konzert bemerkte: „Seit 40 Jahren bin ich beim Musikausschuss
und organisiere Schülerkonzerte. Aber ich habe noch nie erlebt,
dass so viele Kinder so lange so ruhig und aufmerksam sind!“
Und Rolf Seelmann-Eggebert stellte fest: „Es ist höchste
Zeit, über die Zukunft unseres Konzertbetriebes nachzudenken.
Moderierte Konzerte, die das Verständnis für die Musik
fördern, sind ein Weg, auch junges Publikum zu interessieren.“